Im Zeichen der Angst Roman
kissen.
»Wie spät ist es?«, fragte ich.
Rauh sah auf die Armbanduhr, die an seinem dünnen Handgelenk baumelte. »17 Uhr 31«, sagte er. »Um 18 Uhr gibt es Abendbrot.«
Ich hoffte und flehte, auch für meine Tochter würde es ein Abendessen geben. Eines an einem gedeckten Tisch mit einem lustigen Kindertrinkbecher für den Kakao, einem passenden Teller, einer hübschen Butterglocke und dem jungen Gouda, den sie so liebte.
Mankiewisc hatte recht, David hatte recht und Rauh ebenso. Ich konnte nichts tun, nur auf den nächsten Anruf warten. Ich konnte Rauh ebenso gut zuhören.
»Erzählen Sie es mir«, sagte ich leise, und er nickte. Dann füllte seine einst dunkle Lehrerstimme gebrochen und kratzend den Raum.
»Als deine Mutter verschwand und du im Winter darauf nach Hamburg zogst, da freundeten dein Vater und ich uns an.«
Ich sah ihn erstaunt an. Mein Vater hatte nie ein Wort darüber verloren, dass er mit einem überzeugten Parteigenossen befreundet war. Noch dazu mit dem Mann, der das Verschwinden meiner Mutter der Polizei gemeldet hatte, auch wenn ihm
daraus niemand einen Vorwurf hatte machen können. Dennoch wunderte es mich.
»Meine Frau, Hildchen, starb in demselben Jahr, als deine Mutter in den Westen ging. Ich fing nach ihrem Tod an zu imkern, und dein Vater half mir bei den ersten Schritten. Vielleicht kommen sich Menschen durch das Leid manchmal näher als durch Freude.«
»Vielleicht«, sagte ich und dachte an David.
»Was ich dir erzähle«, sagte er und dachte einen Moment nach, »ist vielleicht ein Schock für dich …« Er stockte.
»Meine Mutter hat mir einen Brief hinterlassen. Ich habe eine Halbschwester, wenn es das ist, was Sie mir sagen wollen.«
Er schaute mich an. »Soso, du weißt also … soso, eine Halbschwester …«
»Sie war auch auf der Beerdigung.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich kenne sie nicht.« Seine Augen schweiften ab. »Nein«, sagte er, »ich erinnere mich nicht, eine Frau gesehen zu haben, die deine Schwester sein könnte.«
»Ich glaube, sie kam erst, als wir draußen standen. Da waren Sie schon gegangen.«
»Soso«, sagte er und nickte. »Und was weißt du noch?«
Ich zuckte resigniert mit den Achseln.
»Man fand ein Medaillon bei meiner Mutter mit dem Porträt eines Mannes. Ich weiß, dass er Johann Paulsen hieß und 1951 starb. Ich erinnere mich, dass wir gemeinsam sein Grab besuchten, als ich noch ganz klein war. Aber das sind uralte Geschichten.«
»Soso«, sagte Cornelius Rauh wieder, und ich erinnerte mich, dass er auch in seinem Erdkundeunterricht immer »Soso«, sagte, wenn er einen Schüler ermutigen wollte, mit der Antwort fortzufahren.
»Ich will dir die Geschichte so erzählen, wie ich sie von deinem Vater gehört habe, denn als das alles passierte, war ich noch nicht in Solthaven.«
Seine knöcherne Hand umklammerte den Infusionsständer, und ich fragte mich, ob er Wasser oder Morphium bekam oder beides, und wie lange er wohl noch klar denken konnte, bevor das Morphium auch über seinen Verstand eine dunkle Wolke legte wie über den meines Vaters. Ich fragte mich auch, ob er noch Brot essen konnte und Gemüse oder ob er bereits bei Vanillepudding, Milchsüppchen und Griesbrei angelangt war. Und ich fragte mich erneut, wo meine Tochter jetzt war und ob sie Hunger hatte oder Durst oder beides und was die Angst ihrer Seele antat. Und ich flehte, dass sie sie nicht in einen Turm gesperrt hatten oder in einen Keller oder in ein anderes finsteres Loch.
Ich lehnte den Kopf zurück. Ich hätte schreien können und weinen.
Aber ich musste hoffen, auch wenn die Hoffnung noch so winzig war. Sie wollten das Geld, ich wollte mein Kind. Es würde einen Weg geben. Es gab immer einen. Meistens. Manchmal. Manchmal geschahen Wunder. Es war einfach an der Zeit für ein Wunder.
Mir wurde übel.
»Kämpfe«, hörte ich John Harts Stimme in meinem Kopf so real, als säße er in diesem Zimmer. »Bau deine Universen. Jetzt.« Als hätte auch Rauh Johns Stimme gehört, legte seine sich über die meines ehemaligen Therapeuten, und er sprach weiter.
»Dein Vater und deine Mutter haben sich immer geliebt. Schon in der Schule«, begann Rauh. »Doch deine Mutter war mit ihren sechzehn oder siebzehn Jahren zu lebenslustig, zu begierig auf das Leben und viel zu neugierig, was es noch so alles gab. Sie musste immer ihre Grenzen testen, und so geschah es, dass sie deinen Vater sitzenließ und sich in einen Jungen nach dem anderen verliebte. Heute würde man wohl
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