Im Zeichen der Angst Roman
nichts unternommen haben. Sie ließ es geschehen, weil sie in Meinhard verliebt war und er sie nicht beachtete,
wenn deine Mutter dabei war. So hat deine Mutter es deinem Vater berichtet, und so hat er es mir erzählt.«
»Man wird doch nicht so einfach von einem Freund vor jemand anderem vergewaltigt«, sagte ich. »Meinen Sie nicht auch? Da muss doch noch was anderes gewesen sein.«
»Diese Einstellung hat deine Mutter wohl immer befürchtet. Dass es trotz aller Auf klärung zu tief in den Köpfen steckt, dass vergewaltigte Frauen ihre Peiniger in irgendeiner Form ermuntert haben. Und es gab wohl noch etwas, das deine Mutter zutiefst verunsichert hat.«
Ich dachte erneut an Rena. Ich hatte nie verstanden, weshalb sie meine Mutter und mich ein Leben lang mit ihrem Hass verfolgt hatte. Jetzt wurde es mir langsam klar.
»Sie wurde von Meinhard schwanger, und Rena hat es gewusst. Meine Mutter ging ein Jahr lang nach Berlin, bekam das Kind, gab es zur Adoption frei und kam zurück.«
Rauh nickte. »So hat es dein Vater berichtet.«
»Dann kam sie damit nicht klar und bekam Depressionen.«
»Nein«, sagte Rauh. »So schnell ging das nicht. Die Depressionen fingen erst später an.«
»Wann?«, fragte ich.
»Als deine Mutter erfuhr, dass Paulsen tot war und wer für die Verhaftungen verantwortlich war.«
»Wer war das?«
»Meinhard Laufer. Er hat die beiden denunziert.«
»Woher wusste sie das, wenn alles so streng geheim war?«
»Weil er es ihr gesagt hat in der Nacht, als er sie vergewaltigte. Aber da hat sie noch geglaubt, er würde lügen und wollte sie nur noch mehr demütigen.«
»Wie bitte?«, fragte ich.
Rauh nickte.
»Als dein Vater zurückkam, wusste er, wer ihn angezeigt hatte. Die Russen hatten es ihm in einem seiner Verhöre gezeigt. Eine eidesstattliche Versicherung von Meinhard Laufer,
dass dein Vater bei den Werwölfen war. Sie wollten Namen. Sie wollten, dass dein Vater aussagte. Nur dass er keine Namen kannte, weil es ja keine gab. Da erst, nachdem dein Vater aus der Gefangenschaft zurück war, da erst wusste sie, dass Meinhard sowohl deinen Vater als auch Paulsen tatsächlich denunziert hatte. Von da an fühlte sie sich schuldig an den Verhaftungen.«
»Und mitverantwortlich für Paulsens Tod«, sagte ich leise und dachte, dass ich darin doch endlich etwas fand, das mir an meiner Mutter vertraut war. »Jede Entscheidung, die wir heute fällen, fällt morgen auf uns zurück.« So hatte sie es gesehen, und das hatte sie mich gelehrt.
»Da hast du sicherlich recht. Unrecht hat sie nie ertragen. Sie konnte durchaus penetrant werden, wenn sie fand, jemandem war ein Unrecht geschehen.«
»Ja«, sagte ich, doch es klingelte noch etwas anderes in mir. Ein paar Sätze und Bemerkungen meines Vaters, eine Auseinandersetzung mit meiner Mutter, sie solle endlich aufhören, sich zu quälen, und die alten Geschichten auf sich beruhen lassen.
»Mein Vater wusste, dass dieser Meinhard Laufer ihn verpfiffen und meiner Mutter das angetan hatte, und er hat nichts gegen ihn unternommen?«
»Das konnte er nicht«, sagte Rauh und atmete auf einmal schwer.
»Haben Sie Schmerzen?«, fragte ich. »Möchten Sie vielleicht doch etwas Orangensaft oder Tee trinken?«
Er schüttelte den Kopf. »Das geht vorbei, Kindchen.«
Es ging nicht vorbei. Ich hatte das alles schon einmal erlebt. Es ebbte ab, vielleicht für ein paar Stunden, wenn man Glück hatte. Aber der Schmerz kam zurück in Wellen, deren Schmerzamplituden immer kürzer und immer höher wurden. Das Unheimliche am Krebs war, dass er ein gewisses Stadium erreicht haben musste, bevor er mit Schmerzen zuschlug. Er wuchs und gedieh unbemerkt und in aller Heimlichkeit. Doch wenn er sich
durch genügend gesundes Gewebe gefressen hatte, dann schlug er zu, langsam, aber unauf haltsam.
»Und dieser Mann hat die ganzen Jahre in Solthaven verbracht?«, fragte ich fassungslos.
»Nein«, sagte Rauh. »Er verschwand, bevor dein Vater zurückkam, in den amerikanischen Sektor. Jemand muss ihm gesteckt haben, dass dein Vater entlassen worden war. Damals brauchte man ja mindestens vier Tage, um von Sibirien über Polen nach Deutschland zu kommen. Mindestens.«
»Was ist mit Meinhards Familie?«
»Die Eltern sind längst gestorben. Es gab nur ihn, den einzigen Sohn.«
»Gibt es irgendwo Fotos von ihm?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Rauh.
»Gibt es kein Schularchiv oder Zeitungsarchiv mit alten Zeitungen oder Jahrbüchern?«
»Es gab während der Nazizeit keine
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