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Im Zeichen der Angst Roman

Titel: Im Zeichen der Angst Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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ich ohne dieses Lächeln leben? Wie sollte ich jemals wieder eine Pizza essen, ohne ihre strahlenden Augen zu sehen, die kleinen begierigen Finger, die den Karton ungeduldig aufrissen und dann einen Lidschlag lang verharrten, weil der Geruch frischgebackenen Teigs mit Salami, Tomate und Mozzarella in ihre Kindernase stieg und einen verklärten Zug um ihren Mund legte?

25
    Ich weiß nicht, wie lange ich unter der Bettdecke vergraben lag. Ich verlor jedes Gefühl für Zeit. Minuten konnten vergangen sein oder eine Ewigkeit.
    »Hallo?«, fragte eine männliche Stimme leise.
    Ich schälte meinen Kopf aus dem Kissen. In der Tür klemmte das eingefallene Gesicht von Cornelius Rauh.
    »Darf ich reinkommen?«
    Ich wischte mir über das Gesicht. Es war tränennass. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich weinte.
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich benommen und richtete mich auf.
    »Soll ich vielleicht besser später wiederkommen?«
    »Nein, nein, ist schon gut«, sagte ich und sah mich nach den Papiertüchern um.
    »Ich habe davon gehört«, sagte Rauh. Mit zittrigen Beinen näherte er sich dem Bett, einen Infusionsständer hinter sich herziehend.
    Ich entdeckte den Papierspender an der Wand, zog mit fahrigen Fingern ein paar Tücher heraus und wischte mir über die Augen. Ich rückte an das Kopfteil des Bettes, stellte die Beine hoch, zog die Bettdecke bis zum Kinn und wickelte die nackten Füße unter die Decke.
    Während ich mein Gesicht betupfte, beobachtete ich, wie Rauh unbeholfen über das Linoleum hinkte und sein altmodischer, beigebraun gestreifter Frotteemantel mit zwei großen, aufgesetzten Taschen bei jedem Schritt gegen seine dünnen Oberschenkel schlug.
    »Darmkrebs«, sagte er. »Er hat gestreut. Meine Lebenserwartung misst sich in Wochen.« Er lächelte müde und setzte sich auf den Besucherstuhl neben das Bett, den Infusionsständer nicht aus der Hand lassend.

    »Es tut mir leid«, sagte ich. »Trotzdem sind Sie zu der Beerdigung gekommen …« Meine Stimme wurde schwach und klein. Ich räusperte mich. »Weshalb sind …?«
    »Ich möchte mit dir über deine Eltern reden«, unterbrach er mich.
    »Jemand hat gerade meine Tochter entführt«, sagte ich. »Wissen Sie, was das bedeutet?«
    »Ich weiß, was ein Verlust ist, Clara«, sagte er. »Doch noch ist nichts verloren.«
    »Das sind Phrasen«, sagte ich müde. »Sie haben keine Ahnung, was es heißt, im Ungewissen zu sein. Sie wissen nicht, wie es einen martert, sich in einem verbeißt, wie es jede Minute gieriger und gewaltiger wird.«
    Ich schaute auf seine schmalen Schultern, die eckigen Handgelenke, die spitzen Wangenknochen, über denen sich die Haut wie Pergament spannte. Er war ein Mensch, der starb. Mit jedem Atemzug kam er seinem Tod ein Stück näher. Ich kannte dieses unauf haltsame Auseinanderfallen des Lebens von meinem Vater.
    »Wer hat es Ihnen erzählt?«, fragte ich in das Schweigen, das uns beide eingehüllt hatte.
    »Dieser Kommissar Mankiewisc. Jemand hat ihm erzählt, dass wir uns in der Kapelle unterhalten haben. Er kam zu mir und fragte worüber.«
    »Hören Sie …«
    »Clara. Ich kenne eure Familiengeschichte, und du wirst vielleicht nicht noch einmal hierherkommen. Oder erst dann, wenn es zu spät ist.« Ein Lächeln, halb resigniert, halb altersweise, legte sich über sein ausgezehrtes Gesicht. »Lass dir erzählen, was ich weiß und was dein Vater wusste und dachte. Vielleicht hilft es dir. Vielleicht lenkt es dich ab. Vielleicht hat es sogar etwas mit dem Tod deiner Mutter zu tun.«
    Innerlich stöhnte ich auf. In diesem Augenblick wollte er mit mir über meinen Vater und meine Mutter sprechen? Das konnte nur einem Lehrer einfallen - oder einem Therapeuten wie
John Hart: »Wenn Plan A versagt, nimm Plan B.« Ich hatte keinen Plan B. Mein Leben mit Josey war alles, was ich mir vorstellen konnte, und alles, was ich mir wünschte.
    Ich musterte Cornelius Rauhs eingefallenes Gesicht und den Schädel. Über den Ohren und auf der Mitte des Schädels wuchs vereinzelt Haar nach, dünner, heller Flaum wie bei einem Baby. Er hatte gerade eine Chemotherapie hinter sich, vielleicht nicht die erste, und er hatte nicht mehr lange zu leben. Ich hingegen schwamm in einem Meer aus Zeit, bis sich die Entführer meldeten, und in mir lauerten ein Meer von Tränen und das Verlangen, jeden Augenblick auf die Uhr zu schauen. Ich wischte mir ein letztes Mal über die Augen, knüllte die feuchten Tücher zusammen und steckte sie unter das Kopf

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