Im Zeichen der Angst Roman
sagen, sie flirtete.«
Ich ließ Josey in Gedanken los. Ich erinnerte mich an Renas keifende Stimme, die mich während Kais Beerdigung beschimpft
hatte, ich sei genauso ein Flittchen wie meine Mutter und müsse erst allen den Kopf verdrehen, um sie dann sitzenzulassen. Ich konzentrierte mich auf Rauhs leise Stimme, die zwischendurch immer mal bröckelte, als fiele sie auseinander, so dass er sich räuspern musste.
»Es war wohl eine Zeitlang ein einziges Durcheinander mit ihr und den Jungs, und es gab wohl nicht nur ein Mädchen, dem deine Mutter den Freund ausspannte. Doch dann lernte sie Johann Paulsen in der Tanzstunde kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Paulsen kam Anfang 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft heim. Er war Jagdflieger und wurde 1944 über England abgeschossen. Er war ein paar Jahre älter als deine Mutter und dein Vater. Weil es damals zu wenig junge Männer gab, fragte ihn Hans Kloner, der Leiter der Tanzschule, ob er nicht für einen Kurs einspringen wollte. Das tat er, und so wurde er der Tanzstundenherr deiner Mutter, und sie verliebten sich. Nur drei Monate später verlobten sie sich. Eine Woche später holten die Russen ihn ab.«
Er hüstelte, kramte ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich die Stirn. Ich sah ihm zu, wie er es ordentlich wieder zusammenfaltete und mit den Fingernägeln die Kanten presste, bis sie glatt und scharf waren.
»Und dann?«, fragte ich. Er steckte das Tuch zurück und umklammerte erneut den Infusionsständer.
»Das war im März 1947, kurz nach dem Tanzstundenabschlussball. Sie war am Boden zerstört, und als sie dann hörte, dass Paulsen für die Engländer spioniert haben sollte und dafür 15 Jahre bekam, löste sie die Verlobung. So lange wollte sie nicht warten, und wer konnte das einer Achtzehnjährigen auch verdenken?«
»Spionage«, sagte ich. »Was sollte der Mann denn in einer Kleinstadt wie Solthaven ausspioniert haben? Dieses winzige Chemiewerk, das Düngemittel produzierte, oder die Anzahl der umliegenden Felder?«
»Das spielte keine Rolle. Der Verlobte deiner Mutter hatte in England die letzten Monate bei einer Familie gewohnt, sich mit dem Sohn angefreundet und sich dann mit ihm geschrieben, als er wieder zurückkam. Das reichte aus. Er starb 1951 in Bautzen.«
»Das erst den Russen und dann der Stasi unterstand?«
Rauh nickte.
»Und mein Vater hat sie nach Paulsens Inhaftierung zurückgenommen?«, fragte ich weiter.
»Du kennst ihn doch. Er hatte ein großes Herz. Er hat sie geliebt, auch als sie mit Paulsen zusammen war. Dann holten die Russen im Spätsommer 1947 auch deinen Vater ab.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Sie schickten ihn ohne Prozess nach Sibirien. Mein Vater hat mir erzählt, er wüsste nicht weshalb. Eines Tages hätten sie vor der Tür gestanden und ihn mitgenommen. So sei das damals eben gewesen.«
»Nein, nein«, sagte Rauh. »So einfach war es nun auch nicht. Die Russen warfen deinem Vater vor, dass er zu den Werwölfen gehört haben soll. Nur gab es in Solthaven nachweisbar keine. Trotzdem haben sie ihn für vier Jahre ins sibirische Workuta geschickt. So waren die Zeiten. Es genügte eine Denunziation von irgendjemandem, und die Leute verschwanden.«
»Man hat ihn denunziert?« Ich war überrascht, denn davon hatte ich noch nie gehört.
»Ja.«
»Und wer?«
Rauh zuckte mit den mageren Achseln. »Lass mir ein bisschen Zeit.«
»Trotzdem«, sagte ich und dachte über Paulsen nach, »hätte meine Mutter doch auf Paulsen warten können, wenn sie so an ihm gehangen hat, dass sie sogar noch mit mir an sein Grab gegangen ist.«
»Du musst das verstehen. Sie hatten alle den Krieg überlebt, sie waren jung, sie wollten das Leben genießen. Außerdem
wusste jeder, wenn die Russen einen holen, dann nicht für ein paar Wochen oder Monate. Die holten einen, damit man nicht wiederkam. Das wusste auch deine Mutter. Deshalb sind ja auch so viele damals in den amerikanischen oder britischen Sektor geflohen. Für viele hat es ja auch gegolten: Man geht heute davon aus, dass von den drei Millionen deutschen Kriegsgefangenen nach fünf Jahren Straflager eine Million tot waren. Die, die heimkehrten, mussten unterschreiben, dass sie weder über die Umstände noch über die Zeit ihrer Gefangenschaft jemals reden würden. Das jedenfalls musste dein Vater tun, bevor er 1951 entlassen wurde.«
»Aber sie hätten es mir sagen können. Ich war ihre Familie.«
»Nein, Clara. Sie wollten dich schützen. Sie wollten,
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