Im Zeichen der Angst Roman
gewesen.
»Ich erinnere mich«, sagte ich. »Es tut mir leid, dass ich Sie nicht erkannt habe.«
»Oh, schon gut«, sagte sie und wurde rot, als sei sie es gewöhnt, nicht erkannt zu werden. »Es ist schon so lange her.«
»Ja, sehr lange«, sagte ich.
»Rocket Man« spielte das Handy leise durch das Leder der Tasche.
Mein ganzer Körper begann zu zittern. Es begann in den Händen, erfasste explosionsartig die Arme und breitete sich in den Beinen aus.
Ich riss die Tasche von der Schulter und mit zitternden Händen den Reißverschluss auf. Die Schwester legte beruhigend ihre Hand auf meine.
Ich stieß die Hand weg.
Ich klappte das Handy auf. Die Uhr auf dem Display zeigte 18 Uhr 16. Ich drückte auf den grünen Knopf und lauschte.
»Wollen Sie ein Beruhigungsmittel?«, fragte die Schwester.
»Schsch«, machte ich und lauschte.
»Mama«, klang es leise und klagend, »Mama …«
Die Leitung wurde unterbrochen.
Ich starrte auf das Handy, eine Hand auf meinen Mund gelegt. Alles Blut schien aus meinem Kopf zu weichen. Mir wurde übel, und ich stützte mich mit den Händen an der Scheibe ab.
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch auf die Visite warten wollen?«
»Nein«, sagte ich und atmete tief durch.
»Brauchen Sie ein Beruhigungsmittel?«, drang die Stimme der Schwester erneut in mein Ohr.
»Nein«, sagte ich. »Nein. Danke, es ist schon okay.«
Ich drehte mich um und taumelte mehr, als ich rannte, den Korridor entlang. Meine Schritte hallten in dem Gang wider. Ich lief um eine Ecke. Vor mir öffnete sich eine Fahrstuhltür, ein Mann trat heraus, ich sprang hinein. Eine Frau in einem blauen Morgenmantel lehnte an der Wand, das Gesicht halb verborgen unter dem ungewaschenen, langen Haar.
»Hallo«, sagte ich mit einer Stimme, die fremd in meinen Ohren klang. Die Frau sah mich nicht an. Sie starrte auf ihre Füße.
Der Fahrstuhl fuhr hinauf. Ich drückte den Knopf für das Erdgeschoss. Der Fahrstuhl fuhr weiter hinauf. Ich drückte wieder und wieder auf den Knopf. Meine Augen verfolgten die Zahlen, die die Stockwerke anzeigten. Dritter Stock. Vierter Stock. Wie viele Stockwerke hatte dieses Krankenhaus?
Ich hämmerte auf den Knopf ein. Nahm diese Fahrt denn nie ein Ende? Gab es überhaupt ein Ende?
Die Frau zog den Mantel enger um sich, als würde sein dicker Frotteestoff sie vor mir schützen. Im sechsten Stock stieg sie aus.
»Gute Besserung«, sagte ich viel zu laut. Die Frau rannte den Flur entlang, als sei sie auf der Flucht.
Ich lehnte mich an die Wand und beobachtete unruhig, wie der Fahrstuhl nach unten glitt. Er hielt im zweiten, dann im ersten Stock. Niemand stieg ein oder aus. Als sich die Türen im Erdgeschoss endlich öffneten, standen mir David und Hazel gegenüber.
Ich weinte. Ich merkte es erst in dem Moment, als ich meine Arme um Davids Hals schlang und flüsterte: »Bring mich hier weg. Bring mich weg.«
Dann geschah es. Von irgendwoher rannte ein Typ auf uns zu, und eine Kamera klickte und Fragen prasselten auf uns ein. »Haben Sie eine Ahnung, was die Entführer wollen? Welche
Forderungen haben sie gestellt? Wann genau hat man Ihre Tochter entführt? Gibt es ein Lebenszeichen?«
Hazel riss dem Mann die Kamera aus der Hand und drehte ihm den Arm auf den Rücken. Groß und gewaltig stand er vor dem Reporter, der nicht wusste, wie ihm geschah.
»Raus hier«, zischte Hazel, öffnete die Kamera und entnahm ihr den Chip. Er ließ ihn fallen und trat mit dem Fuß darauf herum. Der Reporter starrte auf den Fuß, die Augen groß, und stotterte etwas.
Hazel beachtete ihn nicht. Er blähte seine Brust auf und schob ihn damit vor sich her zum Ausgang, während ich mein Gesicht an Davids Schulter drückte und schluchzte.
Als Hazel zurückkam, reichte er mir die Taschenflasche. Ich nickte dankbar. Cognac war genau das Richtige.
»Bist du verrückt?«, fragte David und nahm mir die Flasche aus der Hand, kaum dass ich sie angesetzt hatte. »Du hast Medikamente gegen deinen Blutdruckabfall bekommen. Wenn du jetzt Alkohol trinkst, haut dich das um.«
»Lass mich«, sagte ich und wehrte seine Hand ab. »Das wird jetzt eine Hetzjagd.«
»Clara, sei vernünftig!«
»Ich bin nicht deine Frau!«, entfuhr es mir.
David drehte sich um und verließ das Foyer.
Hazels schiefes Boxergesicht lag in besorgten Falten. Er glich mehr denn je einer Bulldogge.
»Geben Sie her«, sagte er und entwand mir die Flasche. »Ich hab nicht dran gedacht.«
Ich hatte der Kraft seiner Hände nichts
Weitere Kostenlose Bücher