Im Zeichen der Angst Roman
Schuljahrbücher, und es gab sie auch nicht in der DDR.«
»Aber es muss doch jemanden geben, der vielleicht Fotos von ihm hat.«
»Vielleicht deine Schwiegermutter. Frag sie.«
Ich sah ihn so erstaunt an, als hätte er mir vorgeschlagen, mich um eine Audienz beim Papst zu bewerben.
26
Pünktlich um sechs verließ mich Cornelius Rauh, wie er es angekündigt hatte. In meinem blauen Krankenhausnachthemd stand ich an der Tür und hielt sie offen. Der stechende Geruch von Desinfektionsmitteln stieg mir vom Korridor her in die Nase.
»Du warst immer eine gute Schülerin«, sagte er zum Abschied. »Du hast deine Aufgaben immer verantwortungsbewusst
und gut erledigt. Und du hast in der Schule niemals aufgegeben, Clara.« Dann schlurfte er an mir vorbei nach draußen. Ich sagte nicht »Auf Wiedersehen«. Ich sah ihm nach, wie er in seinen grauen Lederpantoffeln über den Flur ging. Ein einsamer, gebeugter Mann in einem beigefarbenen Bademantel, der einen Infusionsständer hinter sich herzog. Der Infusionsbeutel schwang rhythmisch hin und her, und die Rollen klangen leise schnurrend durch die Leere des Krankenhausflures. Ich würde ihn nicht wiedersehen.
Ich ging ins Zimmer zurück, knöpfte das Nachthemd auf und ließ es fallen, wo ich stand. Ich stieg achtlos darüber hinweg und holte meine Sachen aus dem Schrank. Ich zog mein schwarzes Kostüm über meine weiße Bluse und warf mir den Mantel über. Auf dem Schrankboden stand meine Handtasche. Ich zog den Reißverschluss auf. Meine Glock lag darin, mein eigenes Handy steckte im Handyfach, das Handy mit dem Foto meiner Tochter in der Seitentasche. Ich wunderte mich, dass Mankiewisc mir die Waffe und das Handy gelassen und auch nicht danach gefragt hatte. Ich wagte nicht, einen Blick darauf zu werfen. Ich vermutete, ich hatte es Groß zu verdanken, dass Mankiewisc in dieser Situation zumindest bei der Waffe ein Auge zugedrückt hatte und dass David ihnen erzählt hatte, weshalb ich das Handy Tag und Nacht bei mir tragen musste.
Auf dem Korridor schaute ich mich suchend um. Ein paar Türen weiter fiel Licht durch eine große Glasfront aus dem Schwesternzimmer.
Die Dienst habende Schwester saß vor einem Bildschirm. Ihre Finger flogen im Zehnfingersystem über die Tastatur, während sie den Blick auf ein DIN-A4-Heft gerichtet hielt, das neben ihr lag.
»Hallo«, sagte ich.
Sie blickte auf, ohne die Finger von der Tastatur zu nehmen. Sie hatte ein junges, freundliches Gesicht mit einem Grübchen am Kinn.
»Was tun Sie hier? Sie sollten doch auf die Abendvisite von Dr. Berg warten.«
»Ich verzichte«, sagte ich.
Über das Gesicht der Schwester huschte ein verstehendes Lächeln. Sie stand auf und zog die Scheibe zur Seite.
»Sie wollen uns verlassen?«
»Ja.«
»Sie müssen unterschreiben, dass Sie auf eigene Verantwortung gehen.«
Ich nickte, und sie füllte ein Formular aus, während ich durch das Fenster hinter ihr auf einen Hof schaute. Es war dunkel. Vor den erleuchteten Fenstern der anderen Gebäude tanzten dichte Schneeflocken.
Sie reichte mir das Formular und einen blauen Kugelschreiber, auf dem der Name des Krankenhauses eingraviert war. »Klinikum Altmark«.
Ich unterschrieb.
»Er ist nicht immer so«, sagte sie.
»Hm«, sagte ich mit gesenktem Kopf, während ich schrieb.
»Er glaubt, Sie seien eine Mörderin.«
Ich schluckte. Meine Tochter war gerade entführt worden, und irgendein arroganter Klinikarzt glaubte, seine Approbation befuge ihn, über das Leben anderer zu urteilen, ohne sie zu kennen.
Ich hatte die Nase gestrichen voll von solchen Menschen.
»Grüßen Sie ihn«, sagte ich.
»Ich glaube nicht, dass Sie eine Mörderin sind«, stieß sie hervor.
»Sie kennen mich doch gar nicht«, sagte ich.
»Ich kannte Ihren Vater. Er war ein feiner Mensch. Und Sie auch.« Ihre Stimme klang weich und mitfühlend.
»Sie kennen mich?« Meine Stimme klang nach Abwehr.
»Ich war Schwesternschülerin auf der Station.«
Ich schaute noch einmal in ihr Gesicht. Aus der Erinnerung
traten ein paar Bilder hervor. Ich sah diese junge Frau, gebeugt über das Bett meines Vaters und seinen Körper zur Seite rollend, um ihm während seiner letzten Tage die Windelhosen anzulegen. Ich sah sie vor mir in ihrem blauen Schwesternschülerinnenkittel, wie sie sein Bett aufschüttelte und seine durchgelegenen Hautpartien vorsichtig mit Salbe behandelte. Sie hatte recht. Wir kannten einander, auch wenn es mir so vorkam, als sei das in einem anderen Leben
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