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Im Zeichen der blauen Flamme

Titel: Im Zeichen der blauen Flamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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des Gottes Kamui-Huchi. Während die Flammen hochstiegen, sprach Tisina: »Du wirst deine Vision allein erleben. Werde nicht ungeduldig, wenn sie nicht sofort eintritt. Wisse, dass dir die Geister nicht wohlwollen und du sie in ihrer wahrhaftigen Gestalt erlebst. Du wirst bis an die Grenzen dessen gelangen, was du an Furcht ertragen kannst. Hältst du die Belastung nicht aus, werden dich die Mächte der Finsternis vernichten. Bestehst du jedoch die Prüfung, werden sich die Ober- und Unterwelt für dich öffnen und dir ihre Geheimnisse preisgeben. Ich werde deine Trance überwachen und dich beschützen … wenn ich es kann! Bist du bereit?«
    Â»Ja«, sagte Susanoo.
    Tisina hob die Arme und nahm aus dem Ausschnitt ihres Gewandes eine Schnur, an der einige kleine Ledersäckchen hingen. Sie waren mit verschiedenfarbigen Fäden bezeichnet. Tisina hielt sie gegen das Licht des Feuers; sie öffnete das eine, auf dem ein blauer Stern gestickt war. Es enthielt ein dunkles Pulver, das stark nach verfaulter Rinde roch. Susanoo bewegte sich nicht. Er sah Tisina das Pulver in die Flammen schütten. Funken sprühten auf. Das Feuer nahm eine eigentümliche gelbe Färbung an, ein herber Geruch verbreitete sich.
    Tisina fuhr fort: »Schau immer zum Nordstern hinauf, die Pforte unserer Himmlischen Heimat. Bald wird deine Seele ihre irdischen Fesseln sprengen und auf dieser Achse zur Milchstraße emporsteigen. Aber zuerst musst du dir ein Tier aussuchen, dessen Geist dich auf dem Weg ins All geleiten soll.«
    Â»Ich wähle den Bären«, sagte Susanoo.
    Sie nickte. »Der Bär ist ein mächtiger Schutzgeist, der mächtigste von allen. Ruf ihn an, wenn du in Gefahr bist, aber gib acht, dass sich seine Kraft nicht gegen dich wendet.«
    Sie packte ein Messer, hob den Hahn an den Beinen hoch und murmelte: »Verzeih mir, wenn ich dich töte, aber ich brauche dein Blut, um mit den Geistern in Verbindung zu treten.«
    Mit raschem, geübtem Griff stieß sie ihm das Messer in die Kehle. Das Blut spritzte auf. Der Hahn schwankte, krümmte sich und versuchte, mit den gefesselten Flügeln zu schlagen. Tisina hielt kraftvoll das zuckende Tier von sich und ließ das Blut in eine hölzerne Opferschale rinnen. Nachdem die Bewegungen des Hahnes abgeklungen waren und die Schale gefüllt war, legte sie den warmen, schlaffen Körper behutsam auf den Boden nieder. Dann kroch sie auf den Knien zu Susanoo. Sie tauchte zwei Finger in das Blut und strich ihm über Stirn und Schläfen, über den Hals, dort wo die Schlagader pochte, und über die Hand-, Fuß- und Kniegelenke. Er fühlte das Blut, warm und klebrig, doch gleichzeitig auch ihre Finger, glatt und kühl. Die Berührung ging ihm durch den ganzen Körper. Sein Atem beschleunigte sich. Der herbe Geruch aus dem Feuer strömte in seine Lungen. Jetzt setzte sich Tisina ihm gegenüber. Sie schlug auf eine kleine Trommel aus Birkenholz und sang dazu. Ihre leise, kehlige Singweise gehörte einem Bereich an, der sich der Macht der vertrauten Rhythmen entzog und der ewigen Bewegung der Dinge entstieg, die den Menschen unbewegt erscheinen, weil ihr Leben nur kurz ist: dem Wachsen und Absterben der Bäume, dem Zerfall der Gebirge, dem Atem des Meeres, dem Kreisen des irdischen Planeten. Nach und nach verwandelte sich der Ton, wurde zu einem Stampfen, einem Vibrieren: ausgestoßen, abgebrochen, wieder aufgenommen, erstickt, berauschend. Susanoo vermeinte, dass seine eigene Haut wie das Trommelfell bebte, dass Feuer in seinen Adern kreiste. Wellen krochen wie durchsichtige Wasser über den Boden, verwandelten sich in silbrige Fäden, die sich auf- und zusammenrollten. Der Wald, der Himmel, das Feuer verschwanden. In seiner fiebrigen Gespanntheit hatte Susanoo mit einem Rest von Klarheit das Gefühl, dass sich sein Körper nach allen Seiten ausdehnte.
    Plötzlich schlug etwas unsagbar Eisiges, Beklemmendes auf seine Schultern ein, bohrte sich in sein Fleisch, jagte in fröstelnden Schwingungen seine Wirbelsäule entlang. Er spürte ein heftiges Reißen und Stoßen, einen stechenden unerträglichen Schmerz. Ihm war, als zerrte ihm die feindliche Kraft das Fleisch von den Knochen, die Augen aus den Höhlen, die Zunge aus dem Gaumen. Er sah, wie sein eigener Kopf, auf einer Lanze aufgespießt, ihn ohne Augen aus blutigen Höhlen betrachtete; sah seinen Körper, in Fetzen

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