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Im Zeichen der blauen Flamme

Titel: Im Zeichen der blauen Flamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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gerissen, im lodernden Feuer verbrennen. Und während die Flammen brausten und tobten, schrie Tisinas Stimme aus unvorstellbarer Ferne: »Den Bären! Rufe den Bären an!«
    Er versuchte es, krank vor Schwäche. Schmerz und Wut halfen ihm, seine ganze Willenskraft aufzubieten: Er schleuderte den Namen des Schutzgeistes mit aller Gewalt gegen die Flammen. Und der Bär trat durch den Feuervorhang. Lautlos tapsend warf er den mächtigen Kopf hin und her, richtete sich auf - riesenhaft, gewaltig -, kam näher und verschmolz mit ihm. Schlagartig spürte er, wie sich seine Kräfte neu belebten. Nun war er nicht mehr der feindlichen Macht schutzlos ausgeliefert. Der Zorn, dass er ihr ausgesetzt gewesen war und Furcht vor ihr empfunden hatte, verlieh ihm übermenschliche Kräfte, und er befahl der fremden Macht bedingungslosen Gehorsam. Jetzt war er wieder mit seinem Körper vereint, aber der Bär war in ihm: Er selbst war der Bär. Das Gewicht seiner Schnauze zog seinen Kopf nach vorn, seine Hände bewegten sich wie Tatzen, sein Atem dampfte. Doch sein Blick war unklar. Eine seltsame Nacht hüllte ihn ein - eine Schwärze ohne Dimension, lichtlos, unfertig. Dann klärte sich die Sicht. Er schwebte über Wälder und Gebirgsketten, und plötzlich sah er das Meer, blau schimmernd wie Türkis. Die Sonne schien warm und unten lag eine Stadt. Aber eine Stadt, wie er sie noch nie gesehen hatte, mit geraden Straßen, Häusern aus Stein und schimmernden Fenstern. Ein silbriger Vogel schwebte über dem Meer und verursachte ein Geräusch, das dem Tosen eines Orkans ähnlich war. Nein, es war kein Vogel. Er hätte nicht sagen können, was es war, vielleicht ein fliegendes Schiff …
    Er sah, wie sich das Himmelsschiff über die Stadt senkte. Ein Gegenstand löste sich von seinem Rumpf und fiel auf eine Kuppel.
    Eine blaue Flamme schoss aus ihr hervor.
    Der Himmel füllte sich mit Blitzen. Unerträgliche Helligkeit breitete sich aus. Die Hitze schmolz Blei und verbog Eisen. Und während das Feuer über der Stadt zusammenschlug, erhob sich ein Wolkengesicht am Himmel, wuchs langsam in die Höhe wie ein Ungeheuer, das nach Jahrhunderten der Einkerkerung in den Tiefen der Erde sich in rot glühender Hässlichkeit aus den Fesseln befreite. Und dann verblasste das Gesicht, der Wind trug es fort, und er sah das Furchtbare, was das Ungeheuer angerichtet hatte.
    Ãœber den Trümmern der Stadt lag ein Schimmer, der die Steine wie Halbedelsteine funkeln und glühen ließ. In der Mitte des Feuers ging alles Stoffliche - Schuttmassen, Mauern, Menschen und Tiere - in der verheerenden, schändlichen Helle auf, als schmelze und brenne dort der Kern der Erde. Ein Standbild, als Einziges unversehrt, stellte einen Mann dar, vielleicht eine Gottheit. Sein Antlitz war heiter; ruhevoll blickte er über die Stätte, wo eine Welt zerstört und jedes Leben ausgelöscht war. Susanoo sah einen Stein, und auf diesem Stein war der Schatten eines Menschen zu erkennen, eingebrannt durch die Hitze; der Schatten eines Menschen, der schon längst gestorben, verbrannt und zu Asche geworden war …
    Und während sein Bewusstsein in grauenvoller Qual vor dem kreideweißen Feuer zurückschreckte, wurde über dem flackernden Rand der Glut die goldene, unberührte Sonne sichtbar - die uralte, schützende Gottheit, Lebenspenderin und Siegerin über den Tod.
    Er schwebte, befreit von Fesseln und Furcht, in einem Meer von Licht, die goldenen Hände der Sonne streichelten ihn, und eine Stimme sagte: »Lebe!«
    Und plötzlich begann die Sonne zu kreisen. Donnerndes Getöse brach los. Er spürte das Vibrieren jener Erdund Himmelskräfte, die stärker waren als alles, was der Mensch ersinnen konnte. Und alle Götter, die er sich in seinem kümmerlichen Hochmut erschaffen hatte, waren nur ein bleicher Abglanz der ungeheuerlichen Macht, die Himmelskörper formt und Gestirne lenkt … Und mit der aufwühlenden Erkenntnis, dass er selbst ein Teil dieser Macht war, gab der Wahn ihn frei. Wie ein Insekt, das unbeschadet durch einen Wirbelsturm fliegt, glitt er durch Raum und Zeit. Das Licht verschwand in weiter Ferne, die Finsternis war ein Strudel, der ihn hinabzog …
    Und plötzlich war alles vorbei. Vielleicht war es schon eine ganze Zeit vorbei. Er lag im Gebüsch, zitternd, in Schweiß gebadet. Der erste Schein der Dämmerung

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