Im Zeichen der gruenen Sonne
öde!
Sie lehnte sich über die Reling und starrte abwechselnd in das Wasser und auf ihr Foto.
Warum kann ich den Sonnenaufgang nicht so festhalten, wie er tatsächlich ist?, dachte sie ärgerlich. In diesem Augenblick fiel ihr ein, was Aurelius gesagt hatte: »Manche Dinge muss man einfach nehmen, wie sie sind, sie genießen. Wenn wir versuchen, sie festzuhalten und sie zu erklären, verlieren sie ihren Zauber!«
Das war es! Pit hatte zwar das Bild der aufgehenden Sonne eingefangen, aber das Wichtigste, die Stimmung, konnte sie nicht fotografieren. Zu dem Sonnenaufgang gehörten die Geräusche des Meeres, der kühle Wind, der ihr ins Gesicht schlug, und der salzige Geruch des Ozeans. Das waren die wichtigen Teile des großen Puzzles, das diesen Sonnenaufgang zu dem machte, was er war, ein Puzzle, das sich auf keinem Foto oder Film einfangen ließ.
Pit dachte an ihren Vater, der mal gesagt hatte, er müsse nicht verreisen, er könne sich auch Bücher über fremde Länder kaufen und Fotos und Filme ansehen. Nee, Papa, dachte Pit, so einfach isses nich – so verpasst du ’ne ganze Menge! Pit riss die Fotografie mittendurch und warf sie ins Meer. Unwillkürlich musste sie grinsen – noch vor einer Woche hätte sie sich eher selber zerrissen als ein Foto.
In diesem Moment ließ ein mächtiger Schlag das Schiff erzittern. Pit verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin. Sofort rappelte sie sich wieder auf und sprang an die Reling. Nein, gerammt hatten sie nichts! Jetzt stürzten auch schon Möhre, Alex und Tom an Deck.
»Was ist passiert?«, rief Möhre aufgeregt. »Ich bin aus der Koje gefallen!«
»Sind wir irgendwo aufgelaufen?« Alex raste zum Bug.
Tom drehte sich besorgt zu Möhre. »He, ist dir was passiert?«
Pit, die ihre blauen Flecken massierte, warf Tom einen giftigen Blick zu und äffte ihn nach: »Hach, mein Engelchen, ist dein Nagellack abgeblättert?«
Alex stand am Bug und sah ins Wasser, aber nichts war zu sehen. »He, Pit«, rief er, »weißt du, was passiert ist?«
»Ausnahmsweise hat euer Lexikon darauf keine Antwort!«, gab Pit eingeschnappt zurück, verschränkte die Arme und blickte stumm aufs Meer.
»Was ist’n mit der los?«, flüsterte Möhre Tom zu, der bloß mit den Schultern zuckte.
Alex bemerkte als Erster, was da nicht stimmte! Obwohl der Wind die Segel aufblähte und sie eigentlich über die Wellen schießen sollten, machten sie überhaupt keine Fahrt mehr! Sie standen wie angenagelt mitten im Ozean, an einer Stelle, wo der Tiefenmesser über tausend Meter anzeigte. Alex rannte nach hinten zum Heck, und in seinem Kopf überschlugen sich die Fragen. Was war hier los, wieso ging’s nicht weiter? »Vielleicht weiß das Schiff, was hier los ist!«, schlug Tom vor.
»Aber die Kah redet nicht mehr mit uns, seit wir unterwegs sind!«, rief Möhre.
»Weil’s auch keinen Grund gab – könntest du dir mal ’n Beispiel dran nehmen!« Alex beugte sich grinsend über die Reling.
Sein Grinsen erstarb augenblicklich. Tief unter ihm spannte sich unübersehbar der Grund, warum sie wie angenagelt im Meer hingen. Ein Netz, leuchtend orange und gigantisch groß, hatte sich in ihrer Schiffsschraube verheddert und hielt sie fest.
»Was zum Hülsensack nochmal soll das denn sein?«, staunte Alex verblüfft. Jetzt beugten sich auch die anderen über das Heck und starrten hinunter auf die engen Nylonmaschen, die sich unentwirrbar um ihre Schraube verknotet hatten.
»Das ist ein Treibnetz!« stellte Pit sachlich fest. »Die Dinger sind kilometerlang und quer durchs Meer gespannt!«
Tom schüttelte den Kopf. »Und was soll der Quatsch?«
Pit sah ihn durchdringend an. »Dieser ›Quatsch‹ sorgt dafür, dass die Meere überfischt sind und Thunfische und Delfine bald ausgerottet sein werden. Weil immer mehr Leute immer mehr Fisch essen wollen, werden die Netze immer größer. Sonst noch Fragen?«
Die drei anderen blickten sie mit offenen Mündern an. Alex fand als Erster die Sprache wieder. »Wieso kommt eigentlich jedes Mal, wenn du den Mund aufmachst, ’ne Horrorstory raus?«
Pit packte ihn heftig am Kragen. »Weil die Welt nun mal nicht perfekt ist, du Blödmann. Was soll ich dir denn sonst erzählen? Dass sie hier Netze auslegen, damit die Wale damit einkaufen gehen können??? Wenn du von dem Übel nicht wissen willst, frag halt nicht!«
Unwillig machte Alex sich los. »Ist ja schon gut, mein Umweltengel. Aber wenn du schon so schlau bist, dann verrat uns doch mal, was
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