Im Zeichen der gruenen Sonne
verzweifelter. Was war das nur? Wo hatte sie das schon mal gehört? Ihre Finger waren fast steifgefroren. Sie spürte, dass sie dringend aus dem Wasser musste. Sie stieß sich von der Schiffsschraube ab und stieg auf. Da war er wieder, dieser lange, klagende Pfiff. Dieser Pfiff … so pfeift ein Tier … ein … Mit einem Mal wusste Pit wieder, woher sie das Geräusch kannte. Aus der Schule, aus dem Film über Säugetiere im Meer! Natürlich, nur ein Tier machte solche Geräusche!
Pit durchstieß die Wasseroberfläche, schnappte aufgeregt nach Luft und schrie den anderen zu: »Ein Delfin, da ist irgendwo ein Delfin im Netz!«
»Pit! Spinnst du? Komm zurück, deine Lippen sind schon ganz blau! Das ist gefährlich!«, brüllte Tom zurück. Aber es war zu spät, Pit war schon wieder verschwunden.
Obwohl sie den Delfin nicht sah, konnte sie doch die Richtung ausmachen, aus der die Töne kamen. Sie wusste, dass Wasser den Schall viel besser trägt als Luft, und dass der Delfin, auch wenn er sich nah anhörte, sehr weit weg sein konnte. In die Maschen des Netzes gekrallt, zog sie sich vorwärts. Masche für Masche, Meter für Meter. Die Schnüre schnitten in ihre steifen Finger ein, und deutlich konnte sie ihr Herz heftig schlagen hören. Als sie auftauchte, sah sie, dass sie sich schon weit von der Kah entfernt hatte. Die anderen riefen ihr etwas zu, aber Wind und Wellen machten es unmöglich, auch nur ein Wort zu verstehen.
Sie tauchte wieder ab und zog sich weiter vorwärts. Die Töne, das Pfeifen und das Klicken, wurden lauter – und dann, ganz plötzlich, konnte sie ihn sehen. Ungefähr zehn Meter von ihr entfernt war ein großer Delfin. Doch er bot einen erbärmlichen Anblick. Seine Schwanz- und Brustflossen waren im engmaschigen Nylon verheddert. Weil er versucht hatte, freizukommen, hatten sich die scharfen Schnüre tief in sein Fleisch eingeschnitten, und man konnte ihm ansehen, dass er am Ende seiner Kräfte war.
Der Anblick stach Pit ins Herz. Mit kräftigen Beinschlägen bewegte sie sich vorwärts, vergessen waren die Kälte, die Müdigkeit und die Schnitte in den Händen.
Mit einem Ruck wurde sie zurückgerissen, etwas hielt sie fest. Sie wirbelte herum. Die Sicherheitsleine, die sie um ihre Hüften gebunden hatte, war straff gespannt.
Verflucht, dachte Pit, so kurz vor dem Ziel! Sie wusste, wenn sie die Leine abtrennte, war sie jeder Strömung hilflos ausgeliefert. Wieder drang das verzweifelte Pfeifen des Delfins an ihr Ohr. Mit einer einzigen Bewegung durchtrennte Pit die Sicherheitsleine mit dem Messer und zog sich am Netz weiter in Richtung Delfin.
Als die Leine plötzlich schlaff wurde, schrien an Bord der Kah alle gleichzeitig auf.
»Das Tau ist abgerissen!«, rief Möhre. »Sie muss sofort da raus!«
Tom zog kräftig und holte schnell die Sicherheitsleine ein. Ganz deutlich war zu erkennen, dass sie nicht durchgerissen, sondern durchgeschnitten worden war.
»Ist die bescheuert?«, schrie er erschrocken. »Die säuft uns glatt ab!!!«
Alex war am ganzen Körper stocksteif geworden und starrte in die Wellen. »Einer muss sie holen, sie muss da raus!« Schreckensbleich drehte er sich um und blickte Tom starr in die Augen. »Tom, ich weiß, das hört sich feige an, aber ich kann da nicht rein. Ich will auch, dass sie gerettet wird, aber ich schaffe das nicht!«
»Willst du, dass Tom auch noch draufgeht, verdammter Mist?«, schrie Möhre ihren Bruder an. Sie war am Ende. Tränen schossen ihr in die Augen, schluchzend ließ sie sich zu Boden fallen.
Nachdem der Delfin befreit war, bewegte er sich zuerst nicht von der Stelle. Pit musste ihm erst einen ordentlichen Stoß geben, bevor seine Lebensgeister erwachten. Für einen Augenblick sahen sich Pit und der Delfin in die Augen, dann stieß er einen schrillen Pfiff aus, schoss gleich darauf los wie ein Pfeil und verschwand im tiefen Blau des Meeres.
Pit rutschte das Messer aus der Hand. Ihre Finger waren so steif geworden, dass sie es nicht länger festhalten konnte. Jetzt fühlte sie plötzlich wieder die lähmende Kälte, die in ihr hochkroch, und den tiefen, unwiderstehlichen Drang, die Augen zu schließen, sich nicht mehr zu bewegen und zu schlafen. Mit letzter Kraft hielt sie den Kopf über Wasser, um Luft zu holen. Als sie weit, weit hinten die Kah treiben sah, wusste sie plötzlich, dass sie es bis dorthin nie schaffen könnte. Völlig erschöpft zog sie sich einige Meter vorwärts, aber sie konnte den Kopf nicht mehr hochhalten.
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