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Im Zeichen der gruenen Sonne

Im Zeichen der gruenen Sonne

Titel: Im Zeichen der gruenen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Rothe
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gerne sehen, wie die Wellen den Pfeiler der Brücke umspülen und auch die vielen kleinen Strudel, die sich im Wasser bilden – aber ich bin zu klein, ich kann nicht über das Geländer sehen.
    »Mama, Mama, heb mich hoch!«
    Meine Mama nimmt mich auf den Arm und hebt mich so hoch, dass ich über das Geländer ins Wasser sehen kann. Es ist ein unheimlicher Anblick – matschige Fluten klatschen in großen Wellen und Strudeln ineinander, dazwischen treiben große Baumstümpfe, die mal in die Tiefe gerissen und mal hochgeschleudert werden. Plötzlich sehe ich noch was. Es ist rot und leuchtet im braunen Wasser! Es ist eine Puppe! Mit dem Gesicht nach unten treibt sie auf den Strudel zu. Ein bisschen sieht sie aus wie ein totes Kind, das dort im Wasser ertrunken ist. Ich will die Puppe haben, ich will runter zum Ufer rennen und sie rausziehen, bevor der große Strudel unter der Brücke sie erwischt. Ich strampele in den Armen meiner Mutter, lass mich los, Mama! Ich versuche mich aus ihrem Griff zu drehen! Ich will die Puppe!
    Plötzlich ist alles so still, als hätte jemand den Ton abgestellt. Ich sehe Mama mit weit aufgerissenem Mund, aber ich kann ihren Schrei nicht hören. Das Steingeländer zieht an mir vorbei. Die braune Wasseroberfläche stürzt mir entgegen! Doch ich höre weder die Wellen noch meinen Aufschlag auf dem Wasser. Dunkelheit. Kälte. Vor mir treibt die Puppe. Sie hat nur ein Auge und grinst mich an. Der Strudel hat sie schon fast gepackt, sie dreht einen Kreis auf der schlammigen Wasseroberfläche. Ihr Arm ist das Letzte, was ich sehe, dann wird sie hinuntergerissen. Wo ist sie? Vielleicht kann ich sie noch greifen. Doch irgendeine Kraft reißt an mir und zieht mich nach unten. Ich wehre mich nicht. Ich lasse es mit mir geschehen. Das Wasser schwappt über meinem Kopf zusammen. Es zieht mich, zieht mich tiefer. Ich schlage mit dem Kopf gegen einen Brückenpfeiler, aber ich fühle es kaum.
    Auf dem Grund treffe ich die Puppe wieder. Ihr Arm hängt in einem Ast. Sie starrt mich aus einem Auge an. Und sie grinst.
    »Du hast Angst, nicht?«
    »Nein, ich hab keine Angst!«, antworte ich. Es wundert mich nicht, dass die Puppe sprechen kann. Aber sie macht mir Angst, ihr Grinsen macht mir Angst!
    »Es gibt keinen Grund, Angst zu haben! Wenn du bei mir bleibst, können wir Freunde sein. Du und ich! Gute Freunde! Willst du das? Das willst du doch?«

    Eigentlich hat sie recht, ja, ich will ihr Freund sein! Ich muss nur hier bei ihr bleiben! Aber was werden meine Eltern sagen …?
    »Mach dir um die keine Gedanken … die werden dich schnell vergessen! Du bist jetzt bei mir, sie wissen, dass es dir hier gut geht! Los, komm zu mir! Gib mir deine Hand drauf – wir sind Freunde … für immer …!«
    Ich würde ihr ja gerne die Hand schütteln, aber irgendwas in meinem Kopf schreit: Nein! Nein!!! Und auf einmal weiß ich es:
    »Du lügst! Wer sagt, dass meine Eltern mich nicht vermissen würden, der lügt! Und wer lügt, ist bestimmt nicht mein Freund!«
    Zum ersten Mal verliert die Puppe ihr Grinsen. Das eine Auge funkelt mich böse an. Jetzt versucht die Puppe, mich zu packen. Sie öffnet den Mund und zeigt ihre Zähne, die selbst unter Wasser noch weiß und spitz leuchten. Ich stoße mich mit aller Kraft vom Boden ab. Du kriegst mich nicht, nicht du! Ich gebe ihr einen Tritt in das Gesicht, sie faucht mich an wie eine Katze. Jetzt zeigt sie ihr wahres Gesicht. Ich schieße hoch, durchteile die Wasseroberfläche, atme aus. Die Geräusche sind wieder da! Wasser überspült mich, aber ich werde mich nicht unterkriegen lassen. Nicht hier und nicht jetzt und schon gar nicht wegen einer roten, bösartigen Puppe! Ich rudere mit den Armen, strampele mit den Füßen, versuche den Kopf irgendwie oben zu behalten. Ich schlucke Wasser, huste, würge, spucke und schreie.
    »HIIILFEEE!!!!!! MAAAAMAA!!«
    Die Kraft des Wassers wirft mich hin und her. Ich sehe meine Mutter auf der Brücke. Sie starrt mich an – aber sie bewegt sich nicht. Sie steht dort steif wie ein Brett und sieht mir zu.
    »Mama! Hilf mir doch!«
    Aber sie starrt mich nur bewegungslos an! Warum hilft sie mir nicht, warum? Sieht sie denn nicht, dass mir die Kräfte ausgehen! Ich versuche, irgendwo im Wasser etwas zu fassen und erreiche den dürren Ast eines kleinen Bäumchens am Ufer. Die Strömung reißt an mir. Lange kann ich ihn nicht festhalten. Meine Finger werden steif.
    »Mama!«
    Mama steht bewegungslos. Die Puppe hatte recht – meine

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