Im Zeichen der gruenen Sonne
ohne einen winzigen Schuss Zitrone, dafür aber mit einer hauchdünnen Scheibe Zitrone und … ach ja … und mit einem Blatt Papier und einem Stift für den Letzten Willen! Stimmt alles, hab ich was vergessen?«
Möhre schüttelte den Kopf.
»Très bien, Madame, ich bin sofort wieder bei Ihnen!« Er verschwand hinter der Düne, tauchte aber sofort wieder auf.
»Ääh, Madame, pardonnez-moi, Entschuldigung – aber war das jetzt mit oder ohne hauchdünnes Zitronenscheibchen?«
Der Fluss war groß und breit und leise. So leise, dass man meinte, die Fische darin zu hören. Pit stand an der Reling und starrte schweigend in das trübe Wasser.
»Als ich fast ertrunken bin, war ich ganz ruhig. Ich hatte gar keine Angst!«, sagte sie, ohne den Kopf zu wenden. Alex schwieg und starrte Löcher in die Luft. »Du bist doch auch fast ertrunken, war’s bei dir auch so?«
»So ähnlich …!«, murmelte Alex.
»Nun lass dich doch nicht großartig bitten – jetzt erzähl schon!«
»Ein anderes Mal vielleicht, okay?«
»Das sagst du jedes Mal …!«
Alex war sichtlich nervös. Jede Diskussion, die dieses Thema anschnitt, war ihm unangenehm. »Warum kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Ich will nicht darüber reden und Sch…« Alex verstummte mitten im Satz, den Blick in die Ferne, ins Nichts gerichtet. Er sah den Nil nicht mehr, hörte Pits Rufe nicht, er folgte bloß noch willenlos einer magischen Anziehungskraft, einem stummen Ruf, der ihn unter Deck zog. Mit wenigen Schritten war er unten und betrat den hell erleuchteten Steuerraum, in dem die Maschine stand. Die Kugel strahlte grün, und ihr Schimmer blendete Alex für eine Sekunde.
»Komm, komm näher!«, sprach Kah. »Tritt heran, Alex, und höre! Ich bin euer Schiff – ich trage euch über das Meer, über den Horizont und darüber hinaus, auf mir reist ihr durch die Welt. Aber ich kann und will euch mehr sein. Mit mir sollt ihr auch in euch reisen, ich will euch Auge, Ohr und Mund sein. Ich will euch Spiegel eurer Seelen sein. Ein Schmerz wird nicht besser, wenn du ihn mit dir trägst. Du darfst ihn nicht verschließen, sonst frisst er dich auf, höhlt dich aus wie ein Wurm den Apfel. Lass den Schmerz frei, lasse ihn fliegen, und er wird dich verlassen. Sprich über das, was dich quält. Zwinge dich, noch einmal zu erleben, was du erlebt hast, und erzähle es. Erzähle es deinen besten Freunden, denn wenn sie tatsächlich deine besten Freunde sind, werden sie es zu schätzen wissen, dass du sie in dein Vertrauen ziehst. Wenn du es mir erzählen willst, dann wisse, ich werde dir immer zuhören und dir helfen, wenn ich kann! Jedem von euch. Denn ihr steht in meinem Schutz, und eure Belohnung soll sein, dass ich euch den Schmerz von der Seele nehme. Willst du es mir erzählen, Alex?«
Alex zögerte. Er konnte sich gar nicht an alles erinnern, was vorgefallen war. Trotzdem schloss er die Augen und fühlte das Vibrieren der warmen Kugel. Er fühlte, wie etwas ihn durchdrang, so wie man die Blicke eines Menschen im Nacken fühlen kann. Etwas beleuchtete ihn von innen und füllte ihn aus.
»Schlaf jetzt, Alex, lass dich einfach fallen und vertrau mir. Schlafe, Alex, schlafe!« Langsam glitt Alex zu Boden. »Folge mir, Alex, wir gehen zurück. Zurück in die Zeit! Weit, weit zurück zu den Tagen, als du noch klein warst! Komm zurück, komm! Wehre dich nicht mehr, lasse dich fallen, tauche unter, sei wieder das Kind, das du mal warst! Zurück, weit zurück! Wo bist du? Was siehst du? Erzähle mir davon …«
Alex’ Geschichte
Mein Name ist Alex, und ich bin fünf. Es ist Samstag, und wie jeden Samstag gehen wir heute im Wald spazieren. Da ist meine Mutter, die hat einen neuen Hut, der ihr ein bisschen zu groß ist. Papa ärgert sie, weil er sagt, dass sie ganz umsonst so viel Geld ausgegeben hat, aber Mama sagt, der Hut sei genau richtig, so wie er ist. Papa trägt seine alte, überall geflickte grüne Lieblingsjacke. Möhre ist auch da, sie geht an Mamas Hand. Es ist nass, überall sind kleine, kreisrunde Pfützen, in die ich mit Anlauf hineinspringe, so dass das Wasser hoch aufspritzt. Das macht viel Spaß, auch wenn Papa und Mama mit mir schimpfen, weil ich mich dreckig mache.
Es muss sehr viel geregnet haben letzte Nacht. Der kleine Bach, den wir auf der Steinbrücke überqueren, ist hoch angestiegen. Ein lauter, reißender Strom, der schlammig und braun aussieht und der alle Pflanzen am Ufer ausreißt und mit sich zerrt. Ich möchte
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