Im Zeichen der gruenen Sonne
abstreift. Jetzt war es besser, sie fühlte sich leicht, emporgehoben in die Luft. Sie fühlte die Hitze, die Erschöpfung und den Durst nicht mehr. Unter sich sah sie ihren Körper im Sand, allein und vertrocknet lag die nutzlose Hülle da. Möhre hatte das Gefühl, leicht zu sein, sich emporschwingen zu können und der Sonne entgegenzufliegen. Unter ihr wurde die Wüste immer kleiner, Möhre schoss hoch wie ein Lichtstrahl. Sie war selber zu einem Lichtstrahl geworden. Millionen Geräusche drangen an ihr Ohr, das Ächzen und Ziehen wachsender Pflanzen, sie hörte die Winde, die über die Berge jagten, die Wellen, die an die Küsten der Erde schlugen, Lachen, Schreien, Weinen, Schritte, Stöhnen, Husten, einen Augenschlag, Schüsse, Musik – ein Konzert der Weltgeräusche dröhnte in ihren Ohren.
Dann wurde es dunkel um sie, fast schien es ihr, als flöge sie durch eine lange Röhre auf ein Licht zu, das sie anzog wie eine Kerze die Motten. Sie wusste nicht wieso, aber sie musste, sie wollte zu diesem Licht, wollte eintauchen, wollte eins sein mit diesem Licht.
»Ankh ankh, en mitak! Yewk er heh en heh! Aha en heh!«, sprach plötzlich jemand zu ihr, und sofort war das Licht verschwunden. Sie stand vor einer großen, verschlossenen Pforte. Durch den Spalt unter der Tür drang das seltsame Licht. Sie versuchte, die Pforte zu öffnen, doch diese war fest verschlossen. Jemand nahm sie vorsichtig bei der Hand. Möhre fuhr herum. Die Augen eines Schakals waren ganz nah vor ihr, doch sie erschrak nicht, denn sie war schon längst jenseits aller Furcht. Was oder wer da vor ihr stand, sah aus wie ein hochgewachsener Mann, der ein edles, weißes Tuch um die Hüften geschlungen hatte. Das einzig Ungewöhnliche an ihm war, dass er den Kopf eines Schakals hatte.
Etwas verlegen kratzte er sich hinter einem seiner großen Ohren und leckte nervös mit seiner langen Zunge über seine hundeartige Schnauze.
»Ankh ankh, en mitak! Yewk er heh en heh! Aha en heh!«, wiederholte er höflich.
Möhre zuckte hilflos mit den Schultern. »Es tut mir leid, aber ich verstehe Sie nicht!«
»Oh, ich dachte, du verstehst Altägyptisch! Es ist lediglich unsere Begrüßung hier oben … oder hier unten – ganz, wie du willst, es ist sowieso egal!«
»Und was heißt: Ankh, ahk … äh?«
»Es heißt: Lebe! Lebe! Du sollst nicht sterben; du sollst leben für Millionen und Abermillionen von Jahren!«
»He, das kenne ich! Das ist aus dem … Moment mal! Bin ich etwa tot?«
»Ja und nein, du bist im Augenblick noch dazwischen! Im Niemandsland sozusagen! Weißt du, früher haben die Leute immer einen riesigen Aufstand um den Tod gemacht. Das große Mysterium, das große Geheimnis Tod! Das einzige große Geheimnis hier ist die Rätselseite in der Sonntagsbeilage unserer Zeitung! Du siehst, alles gar keine Sache … Können wir jetzt gehen?«
»Wohin?«
»Zum Gericht natürlich!«
»Zum Gericht? Weshalb bin ich angeklagt?«
Der Schakalköpfige seufzte, setzte sich in die Hocke und begann, sich ausgiebig mit dem Fuß hinter dem Ohr zu kratzen. Ein Verrenkungsakt, der Möhre unwillkürlich beeindruckte.
»Du bist angeklagt, gelebt zu haben!«
»Ist das denn so schlimm?«
»Kommt drauf an! Ich würde sagen: Sei’s drum, kann jedem passieren, außer mir selbstverständlich, aber der Boss, Junge, Junge, der nimmt’s da genau!«
»Wieso ›außer mir‹?«
»Na, weil ich ein Gott bin, natürlich! Ich bin Anubis!«, prahlte der Schakalköpfige und richtete sich effektvoll zu voller Größe auf.
Möhre beeindruckte das wenig. »Angenehm, ich heiße Myr…«
»Ich weiß, wie du heißt – du bist Ba!«, unterbrach sie Anubis.
»Gar nicht! Ich heiße Myriam!«
»Dein irdischer Name ist uns hier völlig gleichgültig. Du bist Ba, das heißt so viel wie Seele! Dein Körper, der jetzt da unten im Sand gammelt, ist Ka, und wenn du das Gericht einigermaßen überstanden hast, dann wirst du zum Ach!«
»… ach was …«
»Als Ach wirst du mit jedem Sonnenaufgang neu geboren und erhältst das Recht, entweder als Stern am Himmel zu stehen oder mit der Sonne zu wandern oder täglich das Antlitz vom Boss zu sehen!« Anubis blickte sich ein paarmal um, winkte Möhre zu sich heran und flüsterte:
»Wenn ich du wäre, würde ich die Stern-Variante wählen. Ich weiß wirklich nicht, was daran so toll sein soll, jeden Tag den Boss zu sehen. Seit zweitausend Jahren hat er sich nicht rasiert, und eine Umgangsform hat der, du machst dir keine
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