Im Zeichen der gruenen Sonne
Mutter wird mich nicht vermissen, wenn ich nicht da bin. Es ist ihr völlig gleichgültig! Die Puppe hat nicht gelogen. Ich lasse den Ast los und beschließe, weder mit den Armen zu rudern, noch mit den Beinen zu strampeln, noch zu atmen. Puppe! Puppe – lass mich dein Freund sein! Sie hilft mir nicht, sie hilft mir nicht, sie hilft mir nicht … Ich werde gepackt und fortgerissen. Zuerst glaube ich, es sei die Strömung, aber als ich die Augen aufschlage, liege ich am Ufer und blicke in das Gesicht meines Vaters.
»Alles okay, Kleiner?«
»Alles okay, Papa!« Und dann drehe ich mich zur Seite, um mich fürchterlich zu übergeben.
Alex öffnete langsam die Augen. Die Kugel leuchtete nicht mehr, Wasser schlug von außen an die Bordwand. Er lag in Pits Schoß, die ihm die Schweißperlen von der Stirn wischte.
»Das war es also … das Ertrinken war eigentlich gar nicht so schlimm – es war, dass deine Mutter dir nicht geholfen hat!«, sagte Pit leise.
Alex nickte stumm.
»Und was ist mit deinem Vater?«
»Er ist vor einem Jahr abgehauen. Irgendwann wurden wir morgens wach, und er war nicht mehr da!«
»… und hast du nie versucht rauszukriegen, wo er hin ist?«
»Was glaubst du eigentlich, was ich hier gerade tue? Egal, wo mein Vater ist, ich find ihn! Erinnerst du dich noch an die Sage? Die Kinder Kah-newas wünschten sich die Erwachsenen zurück! Genau das werde ich auch machen, wenn wir das hier jemals schaffen sollten!«
Eine kleine Pause trat ein. Beide blickten gedankenverloren ins Nichts. Alex fühlte sich müde, aber gleichzeitig, als sei ihm eine große Last vom Herzen genommen. Er fühlte sich freier. Das Schiff hatte die Wahrheit gesagt, ein Schmerz will raus, und wenn man ihn rauslässt, kann man leichter mit ihm umgehen.
»Dieses Gefühl zu ertrinken, das war bei mir ganz, ganz ähnlich, weißt du? Ich war auch plötzlich ganz ruhig!«, sagte Pit nach einer Weile.
»Ja, aber verstehst du denn nicht? Es ist doch nicht, dass ich fast ertrunken wäre. Meine Mutter stand daneben und rührte sich nicht. Sie hat einfach nur zugesehen!«
»Mensch, Alex, deine Mutter hatte ’nen Schock, die konnte gar nicht! Das kannst du ihr doch nicht ein Leben lang vorwerfen!«
»Schock … Quatsch! Wenn jemand ertrinkt, den man liebt, sollte man sich nicht so anstellen!«
Pit seufzte, nahm einen Schluck Tee, stellte die Tasse ab und fotografierte den völlig fertigen Alex. Klick – Summmm !
Einiger von Ober- und Unterägypten, Herrscher über Leben und Tod, Strahl Atons
»Et voilà, Madame, Ihre Bestellung!« Der Kellner hielt mit beiden Händen einen reich verzierten Blecheimer. Möhre hörte nur das Gluckern von Wasser. Mit einem Mal war sie wieder voll da. Alle ihre Sinne richteten sich nur auf den Eimer in seiner Hand. Sie fiel vom Stuhl und rutschte dem Kellner auf allen vieren entgegen.
»Wasser, geben Sie mir das Wasser!«, keuchte sie und streckte die Hände nach dem Eimer aus.
Der Kellner grinste von einem Ohr zum anderen, stellte den Eimer vor sich auf den Boden, wünschte »Bon appétit«, schnippte mit den Fingern und löste sich in Luft auf. Doch dafür hatte Möhre jetzt keinen Blick – sie wollte nur das Wasser in dem Eimer. Zentimeter für Zentimeter schob sie sich vorwärts, sie konnte das Wasser schon riechen, schon fast das kühle Blech fühlen. Ihre Hand zitterte vor Gier, für einen Schluck Wasser würde sie einen Mord begehen. Als nur noch wenige Zentimeter ihre Fingerkuppen von dem Eimer trennten, wurde dieser plötzlich schemenhaft unklar, um schließlich zu verschwinden. Puff – und der Eimer war nicht mehr.
Möhre brüllte wie ein wildes Tier auf, stürzte mit einem Satz auf die Stelle, wo eben ein Eimer Rettung gestanden hatte, wühlte im Sand, brüllte nach dem Kellner, wälzte sich und fluchte. Sie wirbelte herum. Dort, wo der Tisch und der Stuhl gestanden hatten, steckte jetzt ein altes, verwittertes Holzschild im Wüstensand. Möhre kroch näher.
ACHTUNG!
GEFÄHRLICHE FATA MORGANA!
Ihr Fremdenverkehrsamt!
Besucht die Pyramiden!
Wütend schrie Möhre auf. So eine miese, hinterhältige Fata Morgana! Sie trommelte mit den Fäusten gegen das Schild, verbiss sich in den Pfosten, brüllte alle Schimpfwörter, die sie kannte, und fiel der Länge nach auf den Rücken. Ein letztes Mal öffnete sie die Augen und blickte in den tiefblauen Himmel. Dann schloss sie die Augen. Ihr Körper wurde ihr schwer, und sie ließ ihn liegen, wie man einen alten Mantel
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