Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
sich aus seinem sicheren Versteck, die Nase weit vorgestreckt, die Beine angespannt und bereit, sofort wegzurennen.
„Komm schon, Mädchen“, murmelte Bolan. „Ein frühes Abendessen für dich.“
Filip nahm Rhias hölzerne Schachtel aus der Tasche, und der Hund wich zurück.
„Ist schon gut.“ Bolan hielt ihm das Brot hin. Er schürztedie Lippen, um schmatzende Geräusche zu machen, vermied es aber, den Hund direkt anzusehen.
Die Hündin streckte sich aus, schnappte ihm das Brot aus der Hand und machte einen Satz zurück, um daran zu kauen. Dabei fielen ihr auf beiden Seiten Krümel aus dem Maul. Schwach wedelte sie mit dem Schwanz. Filip hielt die Schachtel auf.
Bolan rollte sich den Ärmel über die Hand und nahm Mareks Schal, den Schal, den Rhia eingepackt hatte, den Schal, von dem sie hofften, dass Mareks Duft auch noch einen Monat nach seinem Verschwinden daran hing.
Bolan hielt ihr den Schal auf die gleiche Weise wie das Brot hin. Die Hündin kroch neugierig vor. Filip schloss die Augen und verband seine Gedanken mit denen des Tieres.
Hunger ließ ihr den Magen knurren, und ihr Mund war wund und klebrig vor Durst. Im Fell an ihrem Hals krabbelten winzige Kreaturen.
Der Mann mit dem Essen streckte noch etwas aus. Tut er mir weh? Der Hund trat zurück. Aber seine Hand roch nach Brot, und seine Gedanken machten nette, beruhigende Geräusche. Keine Gefahr. Auf wunden Pfoten trat sie einen Schritt vor.
Der Schal roch nach einem anderen Mann – und noch schwächer nach einer Frau. Futtermann wollte etwas von ihr.
„Hast du diesen Mann schon gerochen?“, fragte er. Filip hörte Bolans Worte durch die Gedanken des Hundes. Er öffnete die Augen und sah, wie die Streunerin Bolans Finger leckte und einen Blick auf sein Gesicht riskierte. Sie wollte mehr Futter. Kein Zeichen des Erkennens.
Bolan runzelte die Stirn. „Trotzdem danke.“ Er fasste in seine Tasche, der mit dem restlichen Brot.
Filip hielt ihn auf. „Das brauchen wir noch für die anderen.“
„Aber sieh sie dir an, sie verhungert.“
„Es gibt noch Hunderte wie sie. Du kannst sie nicht alle retten.“
Bolan stand auf und sah den Hund an, der mehrere Schritte zurücktrat und sich zur Flucht bereit machte, auch wenn es nicht so aussah, als würde er auf so zittrigen Beinen weit kommen.„Wie kann man sie so leben lassen? Warum kümmert sich niemand um sie?“
„Weil sie nur Tiere sind. Sie haben keine Seelen.“
Bolan drehte sich zu ihm um. „Du weißt, dass das nicht stimmt.“
„Jetzt schon, aber woher sollen die Leute hier das wissen? Die Geister haben sie verlassen, und so haben sie nicht nur keine Magie, sondern es fehlt ihnen auch an Weisheit.“ Sie gingen weiter, und er zeigte mit einer Hand auf die hohen Gebäude, die vor ihnen lagen. „Sie haben sich aus nichts ihre eigene Weisheit geschaffen. Kannst du ihnen daraus einen Vorwurf machen?“
„Sie haben die Geister zuerst verlassen.“
„Vielleicht, aber sie sind nur Menschen. Was haben die Geister für eine Entschuldigung?“
„Was ist mit den Göttern?“
Filip blieb stehen. Sie hatten einen kleinen Tempel erreicht, der zu Ehren eines Gottes errichtet worden war, von dem Filip noch nie gehört hatte. Er musste der Schutzpatron dieses Viertels und seiner Bewohner sein. „Ich habe früher geglaubt, dass sie uns all das hier geschenkt haben“, sagte er, „dass diese Stadt hier auf unsere Vorfahren gewartet hat. Die meisten Ilioner glauben daran, besonders hier in Leukos.“
„Was glauben die anderen?“
„Dass unsere Vorfahren sie unter Anleitung der Götter errichtet haben.“
„Und was glaubst du jetzt?“
Filip sah zu, wie die Gottesanbeter den Tempel betraten und verließen. Beim Eintreten hielten sie alle Opfergaben in der Hand, beim Verlassen waren ihre Hände leer. Einen kurzen Augenblick lang hasste er die Geister dafür, ihm den Schleier von den Augen gerissen zu haben.
Er drehte sich zu Bolan um. „Ich glaube, es wird spät. Gehen wir weiter.“
Sie schenkten dem braunen Hund, der sich wieder in seinen Eingang gelegt hatte, noch einen letzten Blick. Er hatte den Kopf auf die Pfoten gelegt und sah ihnen aus dunklen Augennach. Filip verschloss seine Gedanken fest gegen die Sehnsucht des Hundes, ehe es ihn zerriss.
Schweigend gingen sie die Straße zum Marktplatz hinab. Die Hunde hier waren dreister und fetter, aber immer noch zottig und ungepflegt. Sobald sie das Futter rochen, das Bolan und Filip ihnen anboten, umringten sie die beiden
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