Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
fest.“
Langsam glitt sie vorwärts. Der Ast knackte. Sie erstarrte. Wie lange würde er noch halten?
Durch den Vorgarten kamen mehr Wächter gerannt und schwangen ihre kurzen Schwerter. Wenn Adrek abrutschte, brachten sie ihn um – oder noch schlimmer.
Sie rutschte weiter auf den Ast hinaus. Das Holz knarrte.Adreks Finger waren im Begriff, den Halt zu verlieren und abzurutschen.
Sie warf sich vor und packte seinen Unterarm. Mit einem Bein hielt sie sich am Ast fest und nahm alle Kraft zusammen, die ihr noch blieb.
Sie konnte ihn nicht anheben, aber ihr Halt gab ihm genug Schwung, um selbst besseren Halt zu finden. Adrek winkelte die Arme an und schwang ein Bein über den Ast – eine Bewegung, die weniger anmutig als sonst war. Alanka glitt den Ast bis an den Stamm hinab. Die Borke zerkratzte ihr dabei den Bauch. Erneut ertönte ein Knacken, das lauteste bisher.
Alanka sprang auf den nächsten Ast, der Straße zugewandt. Ihr Fuß rutschte ab, und sie fiel von einem Ast zum nächsten hinunter bis auf den Gehweg. Dort blieb sie zusammengekrümmt liegen.
Adrek grinste sie aus dem Baum über ihr an. „Die reinste Anmut, wie immer.“
Sie warf ihm einen wütenden Blick zu und lächelte dann. „Mach, dass du runterkommst, damit wir wegrennen können.“
Er sprang herab und stolperte bei der Landung kaum merklich. Ein schrilles Pfeifen durchschnitt die Luft.
„Wir sollten uns beeilen“, sagte sie.
Als Rhia das Pfeifen hörte, öffnete sie die Augen und ließ die zitternden Arme sinken. Sie ließ die Krähen davonziehen und beendete ihren lockenden Gesang.
Jemand flüsterte ihren Namen, und die Benommenheit, die der Gesang hinterlassen hatte, ließ sie einen Augenblick lang glauben, sie träumte.
Sie schob die Kapuze zurück und sah auf.
„Marek …“
Er fiel neben ihr auf die Knie. Sie berührte sein Gesicht, seine Haare. Dann verschwamm die Welt hinter einem Schleier aus Tränen.
„Du bist es wirklich“, sagte sie.
„Und du bist es auch.“ Er zog sie in die Arme, und sieschloss die Augen und genoss den Duft seiner Haut und das Gefühl seines Körpers an ihrem. Einen Augenblick lang reichte das aus.
Dann öffnete sie die Augen, um über Mareks Schulter nach ihrem Bruder und Arcas zu sehen. „Wo ist Nilik?“
Marek ließ sie los. „Sie haben ihn heute Morgen mitgenommen.“ Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. „Wir holen ihn uns wieder.“
„Wann?“
„Heute.“ Er stand auf und hielt sie an den Händen. „Wenn wir gleich aufbrechen.“
Lycas trat vor. „Wir haben uns wie geplant aufgeteilt und treffen uns mit den anderen im Gasthof.“
Rhia und Marek rannten die Gasse hinab auf die Straße, knapp an den Wagen und anderen Fußgängern vorbei. Alle anderen Passanten trieb es auf die Villa der Senatorin zu, gebannt vom Anblick der Krähen und den lauten Geräuschen, die aus dem Gebäude drangen.
„Rhia, warte.“ Marek brachte sie zum Stehen, sobald sie den nordöstlichen Quadranten verlassen hatten. Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und legte seine Stirn an ihre. „Ich will dich nur einen Augenblick ansehen.“
Aber er hatte die Augen geschlossen und ließ die Hände über ihr Gesicht wandern.
„Marek …“
„Es tut mir leid.“ Sein Atem ging scharf und schnell. „Rhia, es tut mir so leid.“
„Es ist nicht deine Schuld, dass sie Nilik weggenommen haben.“ Sie streichelte ihm das Haar. „Ich schwöre dir, ich würde dir deswegen nie Vorwürfe machen. Ich liebe dich.“ Sie drückte ihre Wange an seine. Beide waren nass. Dann küsste sie ihn.
Er drehte den Kopf zur Seite. „Ich kann nicht.“
Ihr wurde schwer ums Herz. „Warum nicht?“
„Nicht, ehe ich dir nicht alles erzählt habe. Nicht, ehe du weißt, was aus mir geworden ist.“
„Marek – lass uns erst unseren Sohn zurückholen. Dann können wir reden.“
„Du hast recht.“ Er nahm ihre Hand. „Gehen wir.“
Sie rannten den ganzen Weg zurück bis zum Gasthof. Im Zimmer, das Rhia sich mit Koli und Alanka teilte, war niemand. Sie klopfte an die Tür der Männer.
Adrek öffnete und stieß einen erfreuten Schrei aus, als er Marek sah. Er umarmte ihn fest und zog ihn hinter sich her ins Zimmer. Alanka sprang auf, um sich der Umarmung anzuschließen.
Sie wurden beide wieder ernst, als sie die Nachricht von Nilik hörten. „Wenn wir bloß einen Tag eher gekommen wären“, sagte Alanka, „dann hätten wir sie jetzt beide hier.“
„Ihr konntet es ja nicht ahnen.“ Marek berührte ihre
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