Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
Blicke richteten sich auf Rhia. Er drückte ihr die Hand.
„Die Krähen verschmelzen zu einem riesigen schwarzen Vogel, der sich seinerseits in ein Ei verwandelt. Das Ei fällt zu Boden und zerbricht.“
Marek zitterte. Seine frühere Partnerin Kalia war ein Schwan gewesen, und er hatte genug von ihren Interpretationen gelernt, um zu wissen, dass ein Ei ein Kind bedeutete. Solche Träume, hieß es, sahen den zukünftigen Geist eines Menschen voraus, da aus der Schale normalerweise ein Tier entsprang.
Wenn das Ei allerdings platzte, bedeutete das eine schwere oder traumatische Geburt. Kalia hatte von einem Schwarm Schwäne geträumt, ehe die Wehen für ihren Sohn eingesetzt hatten. Er hatte das Ganze als mütterliche Sorge abgetan, aber es hatte sich als vollkommen wahr herausgestellt.
Tereus wartete, bis das Murmeln der Menge verstummt war. Er atmete einmal tief ein, dann noch einmal. „Aus dem Ei“, sagte er mit gesenkter Stimme, „fliegt ein Rabe.“
Marek hatte noch nie eine solche Stille erlebt, nicht einmal mitten in einer Winternacht. Er hörte nur noch Rhias Herzschlag, der immer schneller wurde, bis er sich beinah überschlug. Er wollte sie ansehen, konnte den Blick jedoch nicht von Tereus’ Gesicht lösen.
„Es ist wohlbekannt“, fuhr der Schwan fast flüsternd fort, „dass Rabe ihre Gabe noch nie verliehen hat. Sie ist der Schutzgeist aller Geister, die Mutter der Schöpfung. Sie kann alle Zeiten sehen und alle Orte. Kein Mensch kann eine solche Macht besitzen.
Doch man sagt, in schweren Zeiten, wenn unser Volk sich in großer Gefahr befindet, wenn es vielleicht sogar kurz vor der Auslöschung steht, schenkt Rabe ihre Gabe einem jungenMenschen, der in der Lage sein wird, durch Zeit und Raum zu wandeln und der uns alle retten kann.“ Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen. „Die Träume verraten uns, dass dieser Rabenjunge oder dieses Rabenmädchen der Nachwuchs einer Krähe sein wird.“
Marek sah Rhia an. Ihre grünen Augen glühten im Licht der Fackeln, als sie den Blick auf ihren Vater richtete. Sie legte sich eine Hand auf den Bauch, aber sonst sah sie stark aus, hatte ihr Kinn trotzig vorgeschoben und schien nicht halb so verängstigt, wie er sich fühlte.
Lange Zeit sagte niemand etwas. Endlich räusperte Rhia sich.
„Na gut, Vater, wenigstens war das nicht peinlich.“
Lautes Lachen ertönte, mehr aus Erleichterung als über den Scherz.
Ladek der Bär stand auf und hob seinen Becher. „Auf Rabe!“
„Auf Rabe!“, hallte es aus der Menge wider.
„Auf Rhia und Marek!“, rief jemand anders. Weitere Rufe wurden laut, Becher schepperten gegeneinander, und große Pfützen Meloxa breiteten sich auf allen Tischen aus.
Rhia sah Marek an, und sie standen gemeinsam auf. Tereus setzte sich hin, und die Menge beruhigte sich wieder.
Rhia sprach zuerst. „Was auch immer die Zukunft bringen mag, wir müssen uns ihr gemeinsam stellen. Alle vier Dörfer müssen ihre Meinungsverschiedenheiten beilegen. Wir müssen ein Volk sein, wenn wir gegen die Nachfahren bestehen wollen. Wir müssen uns nicht bei allem einig sein, doch eine Gemeinsamkeit sollte sich leicht finden lassen – der Wille, zu überleben.“ Sie hob ihren Becher mit Honigwasser. „Auf unser Volk.“
Die Menge jubelte und prostete ihnen zu.
Marek hob seinen eigenen Becher. „Auf die Wiedererwachten.“
Die Menge jubelte noch lauter.
Er beugte sich vor und küsste seine Frau inmitten des Lärms. „Gratuliere, Mutter des Weltenretters.“
„Die Wiedererwachten?“
„Du hast gesagt, wir müssen unsere Meinungsverschiedenheiten beilegen. Dazu gehören auch die religiösen, oder nicht?“
Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. „Dafür kriege ich dich.“
Die Kalindonier schienen beschlossen zu haben, dass der formelle Teil der Hochzeit vorüber war, und stürzten sich begeisterter als je zuvor in die Feier.
Nach einer langen Melodie, bei der Rhia mit allen Anwesenden tanzen musste, entschuldigte Marek sich. Als ein weiterer Rotluchs Rhia in die Arme nahm, winkte sie Marek zu.
Lycas sah seinen Schwiegervater und seinen Schwager an einem der Tische sitzen und brachte ihnen frische Becher mit Meloxa. Er hatte besonders viel Honig hineingerührt, denn der Trank aus vergorenen Holzäpfeln hatte, wie man ihm erzählte, einen Geschmack, an den man sich erst gewöhnen musste. Müde ließ er sich auf die Bank neben Tereus sinken.
„Dieses Getränk“, Lycas deutete auf seinen Becher, „ist unglaublich. Ich
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