Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
muss etwas davon mit nach Asermos nehmen.“
„Auf keinen Fall“, sagte Marek. „Wir haben ohnehin nicht genug.“
„Ich bezahle jeden Preis.“ Der Bärenmarder starrte in die dunkle Flüssigkeit. „Ich tausche hundert Fässer Bier gegen eine Flasche hiervon.“
„Einverstanden.“ Sie stießen an.
Tereus lachte. „Und, wie überstehst du das alles, Marek, mit dem Kind inmitten von alldem hier?“
Mareks Lächeln verblasste. „Ich träume immer wieder, dass das Kind verschwindet.“ Er bedeckte die Augen mit den Fingerspitzen. „Was soll das bedeuten, Tereus? In all meinen Träumen verschwindet das Kind entweder, oder wir werfen es aus Versehen weg.“ Er erzählte von seinem ersten Albtraum, mit dem Kind im Abfalleimer.
„Vor oder nachdem es geboren wurde?“, fragte Tereus.
„Davor. Es ist immer winzig und sieht eher wie eine Puppe oder wie ein kleiner Vogel aus, nicht wie ein Mensch.“
„Verstehe.“ Tereus wurde ernst, auch wenn er zu versuchen schien, sich nichts anmerken zu lassen. „Entschuldige mich einen Augenblick.“
Marek sah zu, wie sein Schwiegervater zu Elora ging, und dieses Mal nicht, um mit der Heilerin zu tanzen. Auch wenn er nicht hörte, was sie sagten, ließen ihre ernst zusammengezogenen Augenbrauen und ihre fest aufeinandergepressten Lippen ihm einen Schauer über den Rücken laufen.
„Ich habe den gleichen Traum“, sagte Lycas und fesselte damit erneut Mareks Aufmerksamkeit. „Nur dass ich unser Kind – das von mir und Mali – an einer Leine führe wie einen Hund. Und sobald es an der Leine zieht, auch nur ein bisschen, lasse ich los.“
„Das ist überhaupt nicht der gleiche Traum.“
„Ich will nur sagen, wir haben alle Albträume über das Elternsein. Wir träumen, dass das Kind zwei Köpfe haben wird oder keine Haut oder dass wir vergessen, es zu füttern.“ Lycas nahm einen großen Schluck Meloxa. „Mein Kind wird mit zwei Kriegern als Eltern geboren. Was für ein Leben ist das? Selbst wenn es uns nicht in einer Schlacht verliert, muss es immer erleben, wie wir einander anschreien. Wenigstens hat dein Kind ein ruhiges Leben vor sich. Wenigstens werdet du und Rhia …“ Er schloss die Finger fester um seinen Becher und klopfte damit auf den Tisch.
„Wenigstens werden wir was?“
„Ihr werdet einander nie verlassen.“
Marek sah über die Tische hinweg an den halb bewusstlosen Kalindoniern vorbei, die sich noch über die Essensreste hermachten. Elora und Tereus saßen jetzt neben Rhia und sprachen eindringlich mit ihr.
Coranna setzte sich auf Rhias andere Seite und schloss sich dem Gespräch an. Er bemerkte, dass seine Frau sich von der Mentorin abwandte, ein Zeichen dafür, wie sehr ihre Beziehung in den letzten Monaten abgekühlt war.
Sie stritten sich oft, wenn sie glaubten, dass er nicht mithören konnte. Häufig ging es dabei um jene, die noch nicht auf dieandere Seite übergetreten waren und was man ihren Hinterbliebenen sagen sollte. Je mehr Rhia in ihre Gabe hineinwuchs, desto mehr unterschieden sich die Vorstellungen der beiden Frauen darüber, wie man ihrem Geist zu dienen hatte. Marek fühlte sich oft zwischen den beiden gefangen.
Tereus und Coranna begannen sich über Rhia hinweg zu unterhalten, und kurz darauf brach zwischen ihnen ein Streit aus. Rhia ließ den Blick von einer Seite zur anderen wandern, folgte dem Gespräch und wurde immer misstrauischer. Sie bemerkte, dass Marek sie ansah. Ehrfurcht und Leidenschaft stiegen mit einer solchen Heftigkeit in ihm auf, dass er Herzklopfen bekam.
Ein verhaltenes Lächeln breitete sich auf Rhias Gesicht aus. Sie stand auf und hielt den Blickkontakt aufrecht.
„Du hast recht“, sagte Marek zu Lycas.
„Womit?“
Marek antwortete nicht. Er erhob sich und steuerte auf Rhia zu.
Als er sie erreicht hatte, schlang sie ihm die Arme um die Taille. „Sie wollen, dass ich zurück nach Asermos gehe, damit Silina sich um mich kümmern kann.“
„Die Schildkrötenfrau?“ Er verkniff sich den Kommentar „Das habe ich dir doch gleich gesagt“. „Warum?“
„Wegen deiner Träume, der Rabenprophezeiung und der Tatsache, dass ich nicht viel an Gewicht zugelegt habe, finden Elora und mein Vater, dass ich aufpassen muss.“ Sie legte ihren Kopf an seinen Hals. „Coranna findet, ich soll bleiben und meine Ausbildung weiterverfolgen, weil die Stimmen nur verblasst sind, aber nicht ganz verstummt. Niemand hat sich die Mühe gemacht, zu fragen, was ich will.“
Marek wusste, was er wollte –
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