Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
eines der Objekte ihrer Verehrung aus Asermos stammte.
Das Gelage war lauter als alle, die Marek bisher erlebt hatte. Es war keine Zeit gewesen, Totenwachen für die Ältesten abzuhalten,die beim Angriff der Nachfahren umgekommen waren, und niemand hatte es gewollt. Die angestaute Energie der Kalindonier fand jetzt in ihrem trotzigen Überschwang ein Ventil. Es war, als versuchten sie, eine Nachricht an Asermos, die Nachfahren und an die Geister selbst zu senden: Kalindos lebt.
Marek saß am Tisch seiner neuen Familie neben Rhia, die ihrem Vater amüsiert dabei zusah, wie er versuchte, die Menge zum Schweigen zu bringen, damit er eine Ansprache halten konnte. Die Feiernden beruhigten sich nur sehr langsam, was Marek mehrere Augenblicke gewährte, in denen er nichts zu tun hatte, als seine neue Ehefrau zu bewundern.
Rhias blasse zarte Gesichtszüge waren in den letzten zwei Wochen, in denen ihre Kraft zurückgekehrt war, rosig aufgeblüht. Heute hatte sie ihre kastanienbraunen Haare zu einer Frisur zusammengenommen, bei der ihre Locken Wangen und Kiefer umspielten. Das dunkelgrüne Kleid brachte ihre Augen zum Strahlen, und in ihnen schien sich das ganze Leben des Waldes zu spiegeln. Sein Blick ruhte auf der weißen Spitze, mit der der Halsausschnitt eingefasst war. Der Ausschnitt reichte tief genug, um die Kurven ihrer Brust anzudeuten, und Marek verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, die Feier zu verlassen.
Um sich abzulenken, damit er Rhia nicht sofort wegschleppte, blickte er zu Alanka, die links neben ihm saß. Sie verzog die Lippen zu einem verhaltenen Lächeln, von dem er wusste, dass es verlöschen würde, sobald er sich abwandte. Er hatte gehofft, dass diese Feier die Schutzmauern einreißen würde, die seine Wolfschwester in den letzten Monaten um sich herum errichtet hatte. Das mögliche Versagen des Rettungstrupps, zu dem auch ihr ehemaliger Partner Adrek gehörte, hatte ihren Trübsinn noch verstärkt.
Die Kalindonier, die mittlerweile schlaff auf Baumstämmen und Tischen herumhingen, sahen Tereus benommen an und warteten darauf, dass der langweilige Teil endlich vorbei sein würde, damit sie weitertanzen konnten. Der Schwan räusperte sich. „Ich hoffe, ich kann mich von anderen Hochzeitsrednern,die ihr bisher gehört habt, unterscheiden. Zum einen, weil ich mich kurzfassen werde, aber auch …“
Ein zustimmendes Johlen übertönte den Rest des Satzes. Tereus lachte. Marek schloss einen Moment lang die Augen und genoss den Klang der vielen ausgelassenen Menschen. Es war zu lange her, seit er Stimmen gehört hatte, die nicht zur Klage erhoben wurden.
Endlich tat die Menge Tereus den Gefallen, bis auf ein leises Murmeln zu verstummen.
„Danke.“ Er hob seinen Krug mit Meloxa. „Erstens, auf Marek und Rhia. Wenn ich jetzt davon anfange, was ich für die beiden empfinde, vergehen sie vor Scham. Also lasst mich einfach sagen, dass ich noch nie zwei Menschen getroffen habe, die so sehr willens waren, füreinander bis ans Ende der Welt zu laufen. Mögen sie niemals auch nur einen Tag lang voneinander getrennt sein.“
Die Kalindonier jubelten. Rhia sah Marek mit großen Augen an. Anscheinend hatten ihre Anstrengungen, die Trauernden zu trösten und ihr Leid zu lindern, davon abgelenkt, dass sie unfreiwillig eine Rolle dabei gespielt hatte, den Zorn der Nachfahren auf Kalindos zu lenken. Oder vielleicht begriffen die Dorfbewohner, dass sie Asermos mit so viel Leidenschaft ergeben war, wie sie selbst für ihre eigene Heimat empfanden.
Als der Lärm der Menge auf ein Maß gesunken war, dass er wieder zu hören war, fuhr Tereus fort: „Ich habe außerdem eine Ankündigung zu machen. Sie betrifft das Schicksal unseres gesamten Volkes. In letzter Zeit sind mehrere Asermonier mit dem gleichen Traum zu mir gekommen. Ich habe mich mit euren beiden Schwänen besprochen.“ Er nickte dem Mann und der Frau zu, die dem gleichen Geist geweiht waren. Ernst erwiderten sie die Geste. „Sie haben mir gesagt, dass auch ein paar von euch die gleiche Vision gehabt haben. Bei der Deutung sind wir uns einig.“
Er stockte, und Marek bemerkte, dass der Becher in Tereus’ Hand zitterte.
„Wie lautet der Traum?“, rief jemand aus den hinterenReihen. Ein Raunen ging durch die Menge.
Der Schwan sah ernst drein. „Manche Teile sind bei jedem anders, aber das Hauptbild bleibt gleich. Es fängt an mit einem Schwarm Krähen.“
Die Spannung um Marek nahm zu – er konnte es beinah körperlich spüren. Alle
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