Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
starke Verlangen, ihn noch einmal zum Lächeln zu bringen. Dann sah sie nach dem Pferd und wieder zurück auf den Mann, und ihr wurde klar, was geschehen war.
„Du warst einer der Kavalleriesoldaten, nicht? Du konntest nicht in die Schlacht reiten und musstest stattdessen gehen.“
Er nickte. „Genau wie mein Bruder. Deswegen ist er gestorben. Deshalb wurde ich verletzt, und deshalb bin ich jetzt hier.“
„Oh!“ Sie erinnerte sich wieder. „Du bist der seltsame Kerl aus dem Krankenhaus. Der, den Adrek versucht hat zu erwürgen.“
Er betrachtete sie. „Bist du die Frau, die ihn aufgehalten hat?“ Sie nickte, wie sie hoffte, bescheiden und senkte den Blick. „Dann stehe ich in deiner Schuld“, stellte er leise fest.
„Jetzt nicht mehr.“ Sie deutete auf die Stelle, wo er gefallenwar. „Ich hätte dich gerade umbringen können. Sagen wir, wir sind quitt.“
„Nein, ich meine es ernst. Bei meinem Volk schuldet man der Person, die einem das Leben rettet, auf ewig Treue.“
Sie winkte ab. „Na gut. Wie heißt du?“
Er sah mit großen Augen zu ihr auf, als hätte sie ihn überrascht. „Filip.“
„Ich bin Alanka.“
Er nickte ihr knapp zu und sagte: „Vergib mir, wenn ich nicht aufstehe, um mich zu verbeugen.“
„In Kalindos verbeugt man sich sowieso nicht zur Begrüßung. Wir umarmen uns.“ Seine Augen wurden noch größer, und sie hob die Hand. „Keine Sorge, ich umarme dich schon nicht.“
Das schien ihn nicht sonderlich zu beruhigen, und sie fragte sich, ob sie lieber gehen sollte. Wahrscheinlich. Sie setzte sich neben ihn auf den Baumstamm. „Wie fühlt es sich an?“
„Was?“
„Das Bein, das nicht dein Bein ist. Das falsche.“
„Es ist …“ Er zögerte. „Das hat mich noch nie jemand gefragt, deshalb weiß ich nicht, wie ich es beschreiben soll.“
„Hat deine Heilerin nicht gefragt, wie es sich anfühlt?“
„Auf klinische Weise, ja. Also ‚Tut es noch weh?‘ oder ‚Scheuert es noch?‘ oder ‚Hast du immer noch das Gefühl, du müsstest es verbrennen und dann in die Asche pinkeln?‘.“
Sie lachte. „Und?“
„Jeden einzelnen Augenblick.“ Er setzte ein grimmiges Lächeln auf und öffnete dann den Mund, als wollte er noch etwas sagen.
„Was ist los?“
„Ich muss es abnehmen und einen der Riemen richten. Er ist zerrissen, als ich gefallen bin.“
„Lass mich dir helfen.“
„Nein, ich würde lieber …“
„Es ist meine Schuld, dass es kaputt ist.“ Sie hockte sich neben ihn und griff nach seinem Stiefel. „Je eher wir es reparieren,desto eher bekommst du auch dein Pferd zurück.“
Er riss ihr den Fuß aus der Hand. „Was glaubst du, was du da tust?“
„Dir helfen, es abzunehmen.“
„Ich muss erst den anderen Riemen lösen.“
„Oh.“ Sie sah zu seinem Schenkel. „Wie?“
„Dazu muss ich meine Hose ausziehen.“
Sie hielt seinem Blick stand, und ihr Tonfall blieb leichtherzig. „Damit kann ich dir auch helfen.“
Er wurde rot und unterstrich damit die kurzen blonden Strähnen an seinem Haaransatz, und ihr wurde klar, dass sie mit ihm flirtete. Flirtete , als wollte sie jemanden, als wollte sie etwas anderes als die Taubheit. Flirten war etwas, das die alte Alanka getan hatte, die Alanka, an die sie sich kaum noch erinnern konnte.
„Ich mache nur Witze.“ Sie stand auf, ging einige Schritte zurück und drehte sich um. Dann lächelte sie. „Es sei denn, du willst es.“
Filip wollte. Im Namen aller Götter oder Geister oder wer sich sonst noch um Stärke anrufen ließ, er wollte sie. Aber der Gedanke, dass dieses wilde schöne Mädchen ihn so sah, der Gedanke daran, wie sie versuchte, ihr Mitleid oder ihren Ekel zu verbergen, linderte seine schmerzliche Sehnsucht, von einer Frau berührt zu werden.
Wenn auch minimal.
„Ich komme zurecht“, erwiderte er barsch und öffnete die Hose.
Er war geschickt darin geworden, sich an- und auszuziehen, und musste den Bund nur über seine Hüften schieben, um den Lederriemen zu erreichen, der seine Prothese festhielt. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er das verhasste Ding in seinen Händen und war wieder angezogen.
Alanka setzte sich neben ihn auf den Baum. Sie sah das falsche Bein ohne Scham an. „Es ist kleiner, als ich dachte.“
Das hört jeder Mann gern. Er versuchte, nicht zu lachen.
„Also, wie fühlt es sich an?“, fragte sie. „Das hast du noch nicht beantwortet.“
Filip hielt die Prothese zwischen seinen Knien und sah sich den gerissenen Riemen an. „Ich
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