Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
schloss die Augen, um sich vor der letzten Anstrengung einige Augenblicke auszuruhen. Als sie sie wieder öffnete, standen Coranna und Damen bei der Tür, und neben ihnen war Silinas Gehilfin.
Als ihr Körper sich unter der, wie Rhia hoffte, letzten Wehe aufbäumte, stimmten die Krähen einen lindernden Gesang an, um das Neugeborene willkommen zu heißen. Coranna in ihrer weichen Altstimme und Damen in einem Bass, der Rhia mit seiner Schönheit zum Weinen gebracht hätte, wenn sie dazu den Atem gehabt hätte. Sie presste mit aller Kraft, spürte aber keine Bewegung.
„Moment.“ Silina runzelte die Stirn. „Er kommt nicht raus. Hör einen Augenblick auf zu pressen.“
„Ich kann nicht!“ Sie wollte Silina erwürgen. „Mach einfach, dass es aufhört. Bitte.“
„Wir müssen vorsichtig sein. Bleib ruhig. Erst pressen, wenn ich es sage.“
Marek hielt Rhia fest und flüsterte ihr aufmunternd zu. Ein ferner Teil von ihr wunderte sich über die Kraft, die er in sich fand. Rhia konzentrierte sich auf ihren Atem und versuchte, nicht in Panik zu geraten.
Bis sie es hörte. Krähenschwingen.
Nilik würde sterben.
„Nein!“ Sie hieb mit den Händen in die Luft, als ließe sich der Geist damit vertreiben. „Du wirst ihn mir nicht nehmen!“
Damens Stimme brach. Rhia wurde klar, dass auch er es gehört haben musste. Coranna allerdings sang so ruhig weiter wie zuvor.
Die Schwingen wurden lauter, je näher sie kamen. Bald würde es zu spät sein.
„Jetzt!“, rief Silina, und Rhia bediente sich einer Kraft, die von überall und nirgends zugleich zu kommen schien.
Mit einer letzten Anstrengung gab sie ihrem Sohn die Chance zu leben, und er glitt in Silinas Hände.
„Prima“, sagte die Schildkröte. Rhia wusste, dass immer noch Grund zur Sorge bestand. Noch hatte ihr Sohn nicht überlebt.
„Alles wird gut“, flüsterte Marek. „Es muss einfach.“
Zelia trat ein und griff nach dem Säugling, der beunruhigend still war. Rhia hatte an genügend Geburten teilgenommen, um zu wissen, dass er schon längst hätte schreien müssen.
„Gib ihn mir“, bat Rhia.
„Wir müssen ihn wiederbeleben.“ Zelia wischte Niliks Gesicht ab und säuberte auch das Innere von Nase und Mund.
„Mach es hier.“
Die Heilerinnen wechselten einen raschen Blick, und dann legte Zelia Rhias Sohn auf deren Bauch. Aus glasigen, halb geöffneten Augen starrte er sie an.
Rhia ging in sich und fand einen letzten Rest Kraft. Die Kraft, zu sehen.
Während die Heilerinnen Niliks Brust rieben, schwebte Krähe über ihm und wartete. Rhia hielt den Atem an.
Die Schwingen entfernten sich, und sie griff nach Mareks Hand. „Er wird leben. Er …“
Sie wurde von einem lauten Gurgeln unterbrochen, als Nilik seinen ersten stockenden Atemzug tat. Seine Brust hob sich, und einen Augenblick später löste sich ein Schrei aus seiner Kehle.
Überglücklich lachte Rhia über das ohrenbetäubende Geräusch. Erleichtert ließ Marek den Kopf auf ihre Schultersinken, und sie spürte, wie die Tränen auf ihre Brust hinabtropften.
Vielleicht war sie zu erschöpft, um zu verhindern, was als Nächstes geschah, oder vielleicht hatte sie vergessen, nicht hinzusehen. Als sie zusah, wie ihr Sohn sich an sein Leben klammerte, öffnete sich ihr inneres Auge einen Spaltbreit, und im nächsten Augenblick hatte sie es weit aufgerissen.
Die Vision saugte sie einen längeren Zeittunnel hinab, als sie je zuvor gereist war, auch wenn der Weg nur einen Augenblick dauerte. Auf der anderen Seite erwartete sie ein sandiger Strand, wo Wellen ans Ufer schlugen, grün und weiß … und rot. Als das Meer sich zurückzog, war sein Schaum mit Blut befleckt, und als es wieder heranrauschte, leckte es an den Sohlen eines Mannes, der mit dem Gesicht nach unten im nassen Sand lag. Ein scharlachroter Bach entsprang aus seiner nackten Brust und dem langen hellbraunen Haar. Der Griff eines Schwertes lag neben seiner ausgestreckten Hand. Sein Körper war schlank wie der eines jungen Mannes.
Zu jung.
Nilik würde niemals alt werden.
Sie schrie ihn an, aufzustehen, zu rennen, zu leben, aber ihr Schrei blieb stumm.
Die Vision wurde schwarz wie Krähes Brustgefieder. Das Gewicht auf ihrem Bauch verschwand, und sie wurde ohnmächtig, als sie die Hand nach ihrem Sohn ausstreckte, der nicht mehr dort war.
Das Sonnenlicht malte immer noch Flecken an die Wand, als Rhia erwachte, also konnte nicht viel Zeit vergangen sein. Marek erschien neben ihrem Bett, sobald sie die Augen
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