Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
musste sie anpassen lassen, weil sie angefangen hat wehzutun. Jetzt sitzt sie zu locker und verrutscht, wenn man zu stark dagegen kommt. Deshalb bin ich gefallen – normalerweise bin ich ein besserer Reiter.“ Er sah ihr ins Gesicht, das am Rand feucht von Schweiß und Tau war. Sie hörte ihm zu, aber wie lange würde ihre morbide Neugierde anhalten?
„Wo hat es wehgetan?“, fragte sie.
„Was meinst du?“
„Wenn ich Stiefel habe, die nicht passen, tun sie manchmal nur an den Füßen weh, aber manchmal schmerzt auch das ganze Bein und sogar der Rücken, wenn ich sie zu lange anhatte.“ Sie ließ den Blick hinauf zu seinem Gesicht wandern, und er versuchte ihr nicht in die dunklen Augen zu starren. „Ist das bei dir auch so? Tut es überall weh oder nur an einer Stelle?“
Überall, dachte er. Besonders jetzt gerade.
Er räusperte sich. „Zum größten Teil hier, an … an meinem …“
„An deinem Stumpf?“
Er atmete scharf durch die Nase ein und nickte, sah sie dabei aber nicht an. Gab es auch nur einen einzigen Gedanken, den diese Frau nicht laut aussprach?
„Tut mir leid wegen deines Bruders“, sagte sie. „Meiner ist auch umgekommen.“
„Schrecklich. Wirklich.“ Er löste den gerissenen Riemen, damit er ihn verknoten konnte. „Du hast keine Ahnung, wie leid es mir tut, dass wir in Asermos eingefallen sind.“
„Das war nicht deine Schuld. Und ich weiß, dass du Nilo nicht umgebracht hast, denn dann würdest du nicht hier sitzen. Mein anderer Bruder, Lycas – er ist auch ein Bärenmarder …“
„Ich kenne Lycas“, stieß Filip hervor.
„Oh, natürlich, durch Tereus. Wie dem auch sei, Lycas hat den Mann umgebracht, der unseren Bruder getötet hat. Hinterher war nicht mehr viel von ihm übrig.“
„Von wem?“
„Nilos Mörder.“ Sie hielt inne. „Auch von Lycas war nach jenem Tag nicht mehr viel übrig.“
„Ich habe in der Schlacht niemanden töten können.“ Er zog fest an den Enden des Riemens, um den Knoten zu testen. „Ich hatte keine Gelegenheit dazu.“
Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie sich die Hände rieb und dann ihre Finger ineinander verschränkte. „Ich schon.“
Ihre Stimme war so leise, dass er sich nicht sicher war, ob er sie richtig verstanden hatte. „Du was ?“
„Ich habe jemanden umgebracht. An jenem Tag.“ Sie rollte ihren Köcher zwischen den Händen. „Um ehrlich zu sein, sogar einige.“
„Frauen haben auf dem Schlachtfeld nichts zu suchen.“
„Ich war hinter dem Feld. Als Bogenschütze.“
Filip fragte sich, ob sie es war, die ihm den Pfeil in die Schulter getrieben hatte. „Wie willst du wissen, ob du auf so weite Entfernung jemanden umgebracht hast?“
„Einer Kolonne war der Durchbruch gelungen, und sie haben auf uns zugehalten.“ Sie ließ die Schultern sinken. „Wir mussten aus der Nähe schießen.“
Sie sah so zerbrechlich aus, so ganz anders als die Frau, der er vor wenigen Augenblicken begegnet war. „Du hast getötet, um dein eigenes Leben und das deiner Kameraden zu retten. Daran ist nichts Schändliches.“
„Das ist es nicht.“ Sie blinzelte, und ihre Stimme klang wieder kräftiger. „Lycas ist stolz auf mich, und alle hier sagen mir, was für eine Heldin ich gewesen bin, ein Land zu verteidigen, das nicht einmal meines ist.“
„Das war auch heldenhaft. Es ist eine Ehre, ein Krieger zu sein.“ Als er seine eigenen Worte hörte, wollte er das falsche Bein von sich schleudern. Wie konnte er von der Ehre eines Kriegers sprechen, wo er doch nie wieder kämpfen würde, ja nicht einmal den Anstand gehabt hatte, auf dem Schlachtfeld zu sterben?
„Ich fühle mich nicht ehrenhaft“, sagte sie. „Ich fühle … garnichts.“ Sie verzog den Mund. „Wenigstens nicht, während ich wach bin.“
„Du hast Albträume?“
„Nein. Ja. Manchmal. Was ist mit dir?“
„Meine Träume sind alle gut.“ Er wog seine Prothese in der Hand und dachte: Das Leben ist mein Albtraum. Er war froh, dass er es nicht laut ausgesprochen hatte, in seinem Kopf klang es melodramatisch genug. „Ich träume von meinem Zuhause. Ich träume davon, zu rennen.“
„Kannst du mit dem Ding nicht rennen?“
„Nicht schnell. Etwas schneller humpeln, wenn der Boden eben ist.“
„Kannst du tanzen?“
„Tanzen?“ Er stieß einen verächtlichen Laut aus. „Ich tanze nicht. Außer vielleicht auf Hochzeiten.“
Mit großer Geste klopfte sie sich auf die Knie. „Dann müssen wir eine Hochzeit feiern, damit du tanzen kannst.“ Als
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