Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
Flüssigkeit zu achten, mit der sich ihr Rock vollsaugte, kniete Rhia sich neben ihre Mentorin. Sie nahm ihre Hand. Corannas blassblaue Augen öffneten sich einen Augenblick, und sie sah Rhia eindringlich an.
„Nicht …“, flüsterte die alte Frau.
„Schsch.“ Rhia hob Corannas Hand und küsste ihre Finger. „Schon deine Kräfte!“
„Für was?“ Ihre Stimme war so heiser wie das Quaken einer Kröte. „Er kommt.“
Zelia hielt ihre Hände über Corannas Wunden und versorgte sie mit einem silbernen Licht. Rhia erkannte, dass der Zauber Schmerz stillte, statt die Wunden zu schließen. Die Zeit zu heilen war vorüber.
Damen kroch an Corannas andere Seite. Er strich ihr das lange silberne Haar glatt. „Krähe wird sich gut um dich kümmern.“
Coranna blinzelte, und in ihren Augen stand Zuneigung. Dann sah sie wieder zu Rhia, und ihr Blick schärfte sich. Sie atmete schwer ein und zwang sich zu den Worten: „Du darfst es nie verraten.“
Plötzlich fiel Rhia in eine tiefe Trance. Es zog sie gegen ihren Willen herab, löschte Mareks Rufe und Zelias entschlossene Pflege aus.
Eine warme Dunkelheit hüllte sie ein. In unsichtbaren Wänden pulsierte Leben. Sie spürte Corannas Anwesenheit und auch Damen, aber sie konnte die beiden nicht sehen, nahm nichts außer Schwarz wahr.
Sie flogen, ohne zu stolpern, zu fallen oder sich zu neigen, einfach geradeaus. Kein Wind strich ihr ins Gesicht.
Rhia war in Krähe selbst. Sie hatte sich noch nie so sicher gefühlt, selbst damals, als er ihr ihre Gabe verliehen hatte und sie in eine Umarmung seiner warmen Federn geschlossen hatte.
Neben ihr atmete Coranna tief und ruhig, während Damens Atem so unruhig wurde wie der von Rhia selbst. Sie wollte nach ihm fassen, wollte einen lebendigen Menschen berühren, ehe Krähe sie alle gemeinsam mit sich herabzog.
„Coranna“, ertönte Krähes Stimme. „Zeit deines Lebens voller Treue und Weisheit hast du mir mit deinem Dienst Ehre bereitet. Dafür biete ich dir einen Platz an meiner Seite – für die Ewigkeit.“
Rhia riss den Mund weit auf. Die Chance, nach dem Tod weiterzuleben? So konnte Coranna, statt in das friedliche Vergessen der anderen Seite zu tauchen, sie selbst bleiben und Krähe dienen.
„Du bist es, der mir Ehre gemacht hat“, entgegnete Coranna fest. „Dein Angebot ist großzügiger, als jeder Mensch es verdient hat.“ Sie zögerte. „Aber ich muss ablehnen. Mein Leben ist lang gewesen, und ich wünsche, für immer zu ruhen.“
„Wie du willst.“ Krähe setzte in großen Kreisen zur Landung an.
„Warte!“, rief Rhia aus, auch wenn sie wusste, dass sie damit wahrscheinlich ungeschriebene Regeln brach. „Coranna, wirst du zurückbleiben, so wie die anderen Kalindonier, die ermordet wurden?“
„Nein“, sagte Coranna. „Der Schmerz und die Angst dauerten nur einen Augenblick, die andere Seite aber ist ewig.“
Rhia spürte einen Ruck, und sie wollte nach Coranna greifen und sie im Leben festhalten. Aber diese Macht hatte sie nicht. Der einzige Mensch, der sie hatte, war gerade dabei, zu sterben.
„Geh mit Krähe“, flüsterte Damen. „Wir wünschen dir Frieden.“
Rhia versuchte das Gleiche zu empfinden, aber ihre Sorge ließ ihr die Stimme versagen, deshalb schickte sie nur ihre Gedanken. Ewigen Frieden.
Coranna und Krähe verschwanden.
Ruckartig kehrte Rhia in die Wirklichkeit zurück und lehnte sich gegen Damen. Sie hielten einander zitternd fest. Eine Bewegung, die sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, brachte sie endgültig auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Nilik …“
Alanka und Marek standen an der Tür. Beide hatten sich Pfeil und Bogen auf den Rücken geschnallt. Alanka hielt das winzige gelbe Hemd in der Hand, das Nilik am Tag zuvor getragen hatte. „Wegen des Geruchs“, sagte sie. „Wir werden ihn finden.“
Rhia stand auf und ging unsicher auf Marek zu. „Sei vorsichtig.“
Er fuhr die Umrisse ihres Gesichts nach, als versuchte er, sie sich ins Gedächtnis zu brennen. „Ich werde nicht ohne ihn zurückkehren.“
Sie wollte ihn anflehen, nicht sein Leben zu riskieren und heimzukommen, wenn er ihren Sohn nicht finden konnte. Aber ohne Nilik verspürte sie eine schmerzliche Leere, und sie wusste, dass Marek keine Anweisung zur Vorsicht befolgen würde. Also küsste sie ihn zum Abschied und sah dabei zu, wie ihr Mann ihrem Sohn in die Dunkelheit folgte.
„Langsamer!“ Alanka musste Marek daran erinnern, sich zu konzentrieren. Sie wusste, dass er nur rennen
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