Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
auf und quetschten sich gemeinsam hindurch. Als die Tür zuschlug, drehte Rhia sich wieder zu Damen um und fragte sich, was sie tun sollte. Wenn bloß Coranna bei ihr wäre.
Sein Stöhnen war leiser geworden. Sein Körper zuckte unkontrolliert. Sie wischte ihm das Gesicht mit einem feuchten Tuch ab, weil sie sich dachte, schlimmer konnte es nicht werden. „Damen, kannst du mich hören?“
„Ich höre dich.“ Er öffnete die Augen und stieß einen tiefenAtemzug aus. „Ich habe alles gehört und dann nichts. Nichts.“ Er bemühte sich, sich gegen die Koje gestützt aufzusetzen, und sah sie dann mit feuchten Augen an. „Ich glaube, mein Kind ist gerade gestorben.“
Rhia starrte ihn voller Schrecken an. Wenn ein erstes Kind starb, ehe es ausgetragen werden konnte, kehrten die Eltern normalerweise in die erste Phase zurück. Als wäre es nicht schlimm genug, eine Fehlgeburt zu erleiden, verlor man auch die Magie der zweiten Phase dabei. Doch so stellten die Geister sicher, dass niemand schwanger wurde, nur um Macht zu erlangen, und das Kind dann abtrieb.
„Es tut mir so leid.“ Sie zog Damen eng an sich und streichelte ihm das lange schwarze Haar. Er packte ihre Schulter und zitterte.
Plötzlich verkrampfte er sich und befreite sich hastig aus ihrer Umarmung. „Ich höre sie wieder!“ Er drückte sich die Handballen vor die Augen. „Aber ich kann sie nicht ausblenden. Ich kann sie nicht einmal auseinanderhalten.“
Sie stieß scharf den Atem aus. „Dann schwanken deine Gaben, so wie am Anfang meiner Schwangerschaft.“
„Das Kind ist in Schwierigkeiten.“ Damen wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab. „Das ist meinem Vetter passiert. Seine Frau hatte eine schwierige Schwangerschaft. Im Monat bevor ihr Sohn geboren wurde, schwankten ihre Gaben zwischen allem und nichts.“
Rhia nickte. Als Heilerin hatte ihre Mutter mehrere solcher Fälle erlebt.
Mit zitternder Hand löschte er das Thanapras in der Wasserschüssel. „Es ist meine Schuld. Krähe bestraft mich.“
„Er nimmt keine unschuldigen Leben, um uns zu bestrafen. Was, glaubst du, hast du dir zuschulden kommen lassen?“
Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu. „Das kann ich dir nicht sagen.“
„Damen, deine Geheimnistuerei muss aufhören. Du hättest es nicht erwähnt, wenn du es mir nicht sagen wolltest.“
Er lehnte sich gegen den Rand der Koje und stieß einenlangen Seufzer aus. „Ich habe Niliks Tod gesehen. Als er geboren wurde.“
„Ich auch.“
Damen starrte sie lange an, ehe er blinzelte. „Du hast eine Entschuldigung. Du warst durch die Geburt müde und schwach.“ Er ließ den Kopf hängen. „Ich war einfach neugierig.“
„Auf was?“
„Auf die Prophezeiung des Raben. Wegen meines eigenen Kindes. Ich dachte, wenn ich sehe, wie Nilik stirbt, kann ich daran erkennen, ob er derjenige ist.“
„Und? Hast du?“
„Nein.“
Die Erinnerung loderte in ihren Gedanken auf, und sie fragte sich, ob Damen das Gleiche gesehen hatte. „Ich habe ihn jung sterben sehen“, sagte sie, „mit siebzehn oder achtzehn, das Gesicht im Sand, ein Schwert in den Händen. Überall ist Blut. Ich glaube, er stirbt im Land der Nachfahren. Was entweder bedeutet, wir können ihn nicht retten, oder unser Volk wird eines Tages angreifen …“
„Warte.“ Damen hob die Hand. „Nilik wird nicht in Ilios sterben. Er wird in Velekos sterben.“
„Velekos?“ Rhia packte Damens Hand so fest, dass sie dachte, die schlanken Knochen müssten brechen. „Bist du sicher?“
„Ich habe den Ort erkannt. Er liegt eine Stunde zu Pferd im Westen des Dorfes, einer der wenigen Strände ohne Felsen.“
Die Vorstellung, was das alles bedeuten mochte, brachte ihre Gedanken zum Rasen. „Das muss bedeuten …“
„Gar nichts. Er könnte dennoch sein Leben in Ilios verbringen und als junger Mann nach Velekos reisen.“ Er verzog sein Gesicht wie unter Schmerzen und löste die Hand aus ihrer. „Das sollte ich dir nicht erzählen. Es bricht das heilige Gesetz.“
„Aber es muss Ausnahmen geben. Warum sollte Krähe uns sonst diese Visionen schenken, wenn wir sie nicht mit anderen teilen dürfen, nicht einmal mit anderen Krähen?“
„Ich weiß es nicht. Um uns zu prüfen? Es steht uns nicht zu, Fragen zu stellen.“
„Aber es ist doch an uns, auf die Art zu handeln, die wir für richtig halten.“
„Wir machen also einfach unsere eigenen Regeln?“ Er rieb sich die Schläfen und starrte sie finster an. „Coranna hatte recht, was dich
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