Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
angeht.“
Rhias Blut begann in Wallung zu geraten. „Nein, hatte sie nicht, weil sie nicht gewusst hat, dass meine Vision Asermos gerettet hat.“
„Wovon redest du?“
„Als ich fünfzehn war, hat Galen mich an seinem kranken Bruder geprüft. An Dorius, dem Onkel von Arcas. Alle dachten, er läge im Sterben, aber ich habe gesehen, dass er leben würde. Dann … habe ich seinen Tod gesehen.“
„Erzähl es mir nicht.“
„Er lag blutend auf einem Haufen goldener Eichenblätter“, fuhr Rhia unbeirrt fort. „Ich dachte, das bedeutet, er würde im Herbst sterben.“
Damen hielt sich die Ohren zu. „Ich will es nicht hören.“
Sie zog seine Arme hinab. „Niemand in Asermos wusste, wann oder wo die Nachfahren angreifen würden, bis Arcas mir sein Geschenk gemacht hat.“
„Was für ein Geschenk?“
„Er hat die Farbe der Bäume um das Weizenfeld herum verändert. Er hat mir einen Sonnenuntergang gemacht.“ Sie ließ Damen los. „Die goldene Eiche war die Sonne.“
Er atmete rasch ein. „Da wusstest du, dass die Nachfahren bald kommen würden.“
„Ich habe niemandem gesagt, woher ich es weiß, aber sie haben mir geglaubt. Damals ist mir klar geworden, wie viel Respekt die Leute vor dem Urteil einer Krähe haben.“
„Und genau deswegen dürfen wir unsere Position nicht missbrauchen.“
„Dem stimme ich zu“, sagte sie, auch wenn sie sich nicht sicher war, dass sie unter „Missbrauch“ das Gleiche verstanden.
Er atmete scharf aus und legte sich auf seine Decke zurück. „Es tut mir leid.“
„Was?“
„Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, zu wissen, dass Menschen, die man liebt, in Gefahr sind. Ich war sehr kalt, was das angeht.“
„Nicht kalt. Realistisch.“
„Ich bin zu Coranna geworden, nur noch spröder.“ Er legte sich einen Arm über die Stirn. „Wenigstens war sie glücklich, so wie sie war. Ihr Gleichmut hat ihr Frieden gebracht. Ich bin einfach nur … tot.“
Sie legte die Decke über seine zitternde Gestalt. „Jetzt nicht mehr.“
24. KAPITEL
M arek erwachte aus einem Nebel der Seekrankheit und blickte in eine Welt, die so weiß war, dass es in den Augen wehtat. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er gestorben war und auf Krähes Schwingen in die Wolken hinaufgetragen wurde. Wenigstens hatte das endlose Schwanken und Schaukeln aufgehört, und sein Magen fühlte sich wieder normal an.
„Steh auf“, brach Milas Stimme durch den Nebel. „Wir sind zu Hause.“
Nun öffnete Marek die Augen ganz. Er spähte durch das runde Fenster neben seiner Schlafkoje und rasselte dabei mit der Kette, mit der er ans Bett gefesselt war.
Er sah, was ihn so geblendet hatte.
Leukos. Die weiße Stadt.
Er reckte das Kinn, um die Spitzen der höchsten Gebäude sehen zu können. Auch wenn er sein Leben in den Bäumen verbracht hatte, bereitete der Anblick ihm Höhenangst.
„Es muss dir seltsam vorkommen.“ Milas Stimme wurde weich. „Ich werde nie vergessen, was du getan hast. Du hast mir Neyla zurückgebracht. In meinen Gebeten werde ich die Götter um Gnade für dich anflehen.“
Er wandte sich vom Fenster ab. „Kannst du mich zu Nilik bringen?“ Seit seiner Flucht in Velekos hatte man ihn nicht in die Nähe seines Sohnes gelassen. Man hatte ihm nicht einmal gestattet, diesen Raum zu verlassen. „Ich muss meinen Sohn sehen.“
Mila blickte sich zur Tür um. „Ich … ich sollte nicht …“
„Sprich nicht mit ihm, Mila.“ Sareb schlenderte mit dem kräftigsten der Soldaten herein, der die Schelle öffnete, mit der Mareks Kette ans Bett gefesselt war.
„Bitte, nehmt ihn mir nicht weg“, flehte Marek, als man ihm die Hände hinter dem Rücken fesselte und eine weitere Kette anbrachte. „Ich tue alles, was ihr wollt.“
„Willst du leben? Dann halt die Augen offen und das Maulgeschlossen.“ Der Kapitän zog ein sauberes Tuch aus seinem Gürtel und wischte Marek grob das Gesicht ab. „Und versuch anständig auszusehen. Wenn du Glück hast, nimmt sie dich als Haus- oder Stallsklave.“
„Wer?“
Sareb stach Marek mit dem Finger in die Brust. „Was habe ich übers Sprechen gesagt?“
Sie erklommen zwei Treppenfluchten, um auf das Hauptdeck im Freien zu kommen. Marek blinzelte gegen das gleißende Licht, das von den hohen weißen Gebäuden reflektiert wurde. Der seltsame Anblick verlangte seine Aufmerksamkeit, aber zuerst musste er seinen Sohn finden. Sie konnten nicht so weit gekommen sein, nur um dann getrennt zu werden.
Ein klagender Schrei zerriss
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