Im Zeichen der Menschlichkeit
Nähmaschinen
Ausgerechnet 1914 begeht die Genfer Konvention ihr fünfzigjähriges Bestehen. Doch niemandem ist zum Feiern zumute, so wie auch den ganzen Krieg über nur ein einziges Mal ein Friedensnobelpreis verliehen wird. Im Jahr 1917 erhält ihn das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, vornehmlich für seinen Einsatz für die Kriegsgefangenen, die in die Millionen gehen.
Im Rückblick auf den Kriegsbeginn scheinen zwei Phänomene heute nahezu unbegreiflich: Zum einen die grenzenlose Begeisterung und Angriffslust, die insbesondere Deutschland und Österreich-Ungarn erfasst. Zum anderen die allgemeine Überzeugung, dass der Krieg in wenigen Monaten vorüber sein und mit einem Sieg der Mittelmächte enden würde. Vier Wochen nach dem Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. An der Spitze der Donaumonarchie waltet noch immer Kaiser Franz Joseph, einer der letzten Veteranen von Solferino. Die deutsche Kriegserklärung an Russland, das Serbien Unterstützung zugesagt hat, erfolgt zeitgleich mit der Mobilmachung am 1. August. In fast allen Chroniken der Vereine vom Roten Kreuz findet sich für diesen Tag das Umstandswort »sofort«. Sofort melden die Schwestern sich zum Dienst, sofort werden Verbands- und Erfrischungsstationen auf den Bahnhöfen eröffnet. Dass jemand den Kriegsbeginn verpasst hätte, scheint nicht vorgekommen zu sein.
Einige wissen schon etwas früher Bescheid. Großherzogin Luise bricht noch am 31. Juli ihre Ferien auf der Insel Mainau ab. Auch der Generalsekretär des Badischen Frauenvereins eilt noch in der Nacht aus der Schweiz herbei, und im Laufe des Tages trifft auch der Vorstand fast komplett in Karlsruhe ein. Die Maschinerie läuft an. Als die Zeitungen am nächsten Morgen Frauen aller Stände zur Näharbeit rufen, müssen die Listen schon um elf Uhr wieder geschlossen werden, so viele haben sich gemeldet. 260 Helferinnen fertigen fortan »in ernster, begeisterter Arbeit« Bettlaken, Krankenkittel, Taschentücher und Hemden für die Lazarette. Auf dem Speicher des Karlsruher Mutterhauses stehen 145 Koffer, Segeltuchtaschen und Brotbeutel aufgereiht. Die Generaloberin wählt einige Schwestern für den Etappendienst aus, die übrigen gehen in die Heimatlazarette. Unmittelbar an der Front kommen nur Sanitäter zum Einsatz. Wie gefährlich ihre Tätigkeit ist, zeigt sich auch daran, dass Militärärzte mutmaßlichen Simulanten damit drohen, sie als Träger einzusetzen. Am 11. August erfolgt die Übergabe der Schwestern an das Heer. In vier Trupps treten sie im Garten an. Nach markigen Reden diverser Inspektoren beschließt eine Ansprache der greisen Großherzogin die Zeremonie. Sie verabschiedet die Schwestern »wie eine sorgende Mutter ihre Kinder«. Es ist ihr vierter Krieg.
In Baden stellt das Rote Kreuz seine Kliniken und Heilstätten der Armee zur Verfügung. Das Kindersolebad in Dürrheim füllt sich ebenso mit angeschossenen Soldaten wie das Schwesternerholungsheim in Kandern. Als siebzig französische Verwundete in einem noch kaum bezugsfertigen Lazarett landen, werden sie kurzerhand vom benachbarten Gasthaus verpflegt.
Statt des raschen, brachialen Schlagabtauschs, den die Planspiele der Strategen vorgesehen haben, entwickelt sich der Krieg zu einem zermürbenden Stellungskampf. Ein Grabenkrieg, wie er fünfzig Jahre zuvor bei Düppel durchexerziert worden ist. Dort hat er sich über fünf Wochen hingezogen und über wenige Kilometer. Jetzt aber erstreckt er sich von der Atlantikküste bis zur Schweizer Grenze – und er wird vier lange Jahre dauern.
»Namentlich des Stellungskrieges«, meldet ein Generalleutnant, »ist die geistige Anregung immer notwendiger geworden.« Weshalb das Rote Kreuz überall in der Etappe Lesehallen für die Soldaten einrichtet, bestückt mit Büchern, Zeitungen und Zeitschriften, mit Brettspielen und Briefpapier. Der Zweigverein Jena schickt zur geistigen Belebung der Truppen gar eine fahrbare Bücherei in den Krieg: eine zweispännige Kutsche, munitioniert mit zweitausend Bänden »für die verschiedensten Bildungsgrade«. Für Kriegsgefangene richtet das Rote Kreuz an der deutschen Botschaft in Bern eine Bücherzentrale ein. Die Leitung übernimmt Hermann Hesse. Da kein Grundstock vorhanden ist, lichtet er anfangs seine eigene Bibliothek und bittet Bücherfreunde und Verlage um Spenden. Am Ende schickt diese Stelle Monat für Monat 12000 Bücher an Hunderte von Lagern in
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