Im Zeichen der Menschlichkeit
festzuhalten. Der Krieg ist das große Novum, ein düsteres Abenteuer. Drei ganz unterschiedliche Beispiele sollen hier vorgestellt werden. Das erste ist so ausschließlich als privates Dokument gedacht, dass noch nicht einmal der Name des Autors eindeutig daraus hervorgeht. Offenbar ein Herr Diederich. Paradoxerweise ist aber sein Inhalt überhaupt nicht privat (im Sinne von persönlich), sondern ein trockenes Protokoll, in dem nur hie und da eigene Erlebnisse auftauchen. Dennoch handelt es sich um ein aufschlussreiches Zeitdokument. Und um ein interessantes Stück Rotkreuzgeschichte, verzeichnet es doch den Alltag auf einem Lazarettzug, einem der damals wichtigsten Einsatzgebiete von Kriegshelfern. Die Transportkapazitäten des Heeres nicht mitgerechnet, sind auf deutscher Seite neunundachtzig solcher Züge im Einsatz. Als Sekretär wird Diederich buchstäblich zum Fahrtenschreiber seines Zugs. Wohl zu keiner Zeit hat sich so viel Kriegsbegeisterung unter den angehenden Akademikern Bahn gebrochen wie 1914. Nicht allein, dass sich Zehntausende von Freiwilligen dem Roten Kreuz zur Verfügung stellen, Studenten und ihre Professoren gehören auch zu den eifrigsten Eintreibern von Geld- und Sachspenden. Der »Vereinslazarettzug K 1« wird komplett von der Universität Bonn gestiftet und unterhalten. Er umfasst gut vierzig Waggons; zur Besatzung gehören drei Ärzte, vierzig Pfleger sowie Küchen- und Verwaltungspersonal. Diederich registriert die Verwundeten, er führt Buch über die Lagerbestände, gibt Post und Telegramme auf.
Die Jungfernfahrt am 12. Dezember 1914 führt nach Rethel, einem Eisenbahnknoten unweit von Reims. Anfangs nimmt Diederich sich vor, seinen Angehörigen von diesen Reisen zu berichten. Enttäuscht muss er dann in dem fürchterlich zusammengeschossenen Ort feststellen, dass »es gar nichts zu kaufen gibt, nicht einmal Ansichtskarten«. Der Zug teilt sich, um Verwundete aufzunehmen; die Rückfahrt erfolgt erst zu Weihnachten. In Heilbronn werden 120 Männer ausgeladen, in Öhringen 41 und in Schwäbisch Hall 76. Von dort geht es wieder nach Öhringen und abermals nach Heilbronn, um die zurückgelassenen Tragen einzusammeln. Die verbliebenen 21 Kranken werden nach Bonn gebracht. Weihnachtsfeier bei voller Fahrt, Ankunft am 25. Dezember. Um die erwarteten Massen an Verwundeten aufzunehmen, ist auch die Beethovenhalle in ein Lazarett verwandelt worden. Umgebaute Straßenbahnen karren die Männer vom Bahnhof aus dorthin.
In Rethel am Rande der Ardennen laden Angehörige der Sanitätskolonne Saarlouis Verwundete aus einem Lazarettzug aus.
© Mathieu-Görg / DRK
Den ersten Einsätzen sieht Diederich noch neugierig entgegen – »Schade, daß wir immer in der Nacht fahren« –, doch bald wird das Pendeln zur Routine. Der Stoßrichtung des Heeres folgend, führt die Route häufig durch das besetzte Belgien an die nordfranzösische Front. Kanonendonner bei Verdun, Kanonendonner bei Ypern. Fliegergefahr über Chauny, mit einem Munitionszug auf dem Nebengleis. Bei Lüttich besichtigt Diederich die Festung Loncin, die als uneinnehmbar galt, nun aber von schweren Geschützen zusammengeschossen worden ist. »Von außen sieht man nur einen Hügel, der mit niedergetretenem Stacheldraht umzäunt ist«, berichtet er. »Durch einen Gang kommen wir ins Innere. Da sieht man das Loch, wo der Pulverturm gestanden hat, dann eine zerstörte Panzerkuppel, auf die Felder geschleuderte zentnerschwere Blöcke, armdicke Stahlwände, alles ein Chaos von Trümmern. Und dazwischen unkrepierte Granaten und Menschenknochen, zum Teil noch in Uniform.«
In Bonn werden die Verwundeten, die mit den Lazarettzügen von der Front ankommen, mit Straßenbahnen weitertransportiert.
© DRK
Totalschaden: Ein Ambulanzwagen ist von einer Granate getroffen worden. Unter dem toten Pferd scheint noch etwas zu liegen.
© DRK
Eine der Hauptbeschäftigungen der Hilfsmannschaft ist das Warten. »Morgens nichts Neues« … »Warten auf nähere Ordre« … »Wir fuhren weiter die gewohnte Strecke.« Stehen sie in Konstanz oder Koblenz? Ist Werktag oder Feiertag? Die Grenzen verschwimmen im Einerlei des Dienstes. Morgens sehen die Pfleger nach, wie die Verwundeten die Nacht überstanden haben. Anschließend Arztvisite, Verbandswechsel, Waschungen. Nach dem Mittagessen bringen sie Lektüre, helfen beim Briefeschreiben, verteilen Kaffee. Schließlich Abendvisite und Zuteilung der Medikamente für die Nacht.
Von den Schicksalen der Verwundeten
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