Im Zeichen der Menschlichkeit
schreibt Diederich nur vereinzelt. Es sind einfach zu viele, es kommen jeden Tag neue an, und sie alle sind schwer krank oder entsetzlich verstümmelt. Das Einzige, was er für sie tun kann, ist, dafür zu sorgen, dass sie schnell ins Hinterland gebracht werden. Kriege sind immer auch statistische Großereignisse – darüber diskutierte schon der Berliner Kongress von 1863. Das Fahrtenbuch wird zu Diederichs Privatstatistik. Daten und Zahlen sollen ihm Halt geben im Kreuz-und-quer der Einsätze. Bis April 1916 nimmt er an 31 Fahrten teil, auf denen insgesamt 7485 Verwundete verfrachtet werden. Der für gut 250 Kranke ausgelegte Zug fährt also bei fast jeder Tour voll besetzt. Obwohl die »bewegliche Sanitätsformation« öfter in Bonn Station macht, kommt Diederich nur selten nach Hause. Das Personal übernachtet im Zug, damit es bei Bedarf sofort losgehen kann. Im Ganzen entsteht das Bild eines gut geölten Karussells, das die Opfer der Kämpfe von der Front in die Heimat expediert, um zu retten, was von ihnen zu retten ist. Die Metapher von der großen Kriegsmaschine wird im System der Lazarettzüge unmittelbar anschaulich.
Kamerad Schwester
Auch das zweite Tagebuch ist anfangs nicht unbedingt zur Veröffentlichung bestimmt. Und doch hat es sich zu einem spektakulären Bucherfolg entwickelt. Es stammt von Helene Mierisch aus Einsiedel im Erzgebirge. Schon 1912, mit gerade sechzehn Jahren, hat sie sich für eine Ausbildung zur Krankenpflegerin beworben, ist jedoch ihrer Jugend wegen zurückgestellt worden. Wie kommt ein Mädchen in ihrem Alter zu einer so weitreichenden Entscheidung? »Ich saß klopfenden Herzens in Propaganda-Filmvorträgen über die Tätigkeit des Roten Kreuzes und beneidete glühend jene Schwestern auf der Leinwand.« Erstaunlich daran ist allein schon die Selbstverständlichkeit, mit der sie die Filmvorführungen erwähnt. Denn das neue Massenmedium tritt gerade seinen Siegeszug an. Soeben hat das erste professionelle Kino in Dresden eröffnet. Wie und wo hat ein Mädchen aus dem Erzgebirge damals solche Filme gesehen? Und wovon mögen sie erzählt haben?
Noch am Tag der Mobilmachung setzt Mierisch ihren Vorsatz in die Tat um. »Man lebt nur von Extrablatt zu Extrablatt. Warum bin ich kein Junge und muß tatenlos dasitzen? Natürlich melde ich mich sofort beim Roten Kreuz.« Nach einem zweimonatigen Schnellkurs vermeldet sie stolz: »Ich besitze einen wunderschönen Ausweis mit Bild, Samariterzeichen und rotem Stempel. Ich bin nun endlich auch wer.« Freudig bringt sie ihr Opfer für die nationale Sache. »Ich fühle mich langsam in meiner Rolle erstarken, betrachte mich auch als Militärperson.«
Zunächst ist der Berufswunsch Rotkreuzschwester für die junge Frau ein Abenteuer, etwa so, wie jungen Leuten heute ein Auslandseinsatz für eine gute Sache vorschwebt. Neben der Leidenschaft fürs Helfen spielt »ein nicht zu bändigender Reisetrieb« eine wichtige Rolle. Überhaupt weiß sie sehr genau, was sie will, auch in Liebesdingen. Einem hat sie schon ihr Herz versprochen: Heinrich. Der Krieg verleiht dieser zarten Bindung nun einen dramatischen Hintergrund. Während Heinrich auf einem Torpedoboot Dienst tut, zieht Helene als eine von 90000 Schwestern in den Krieg. Sie wird einem Lazarett im Elsass zugeteilt, das in aller Eile in einem Kloster eingerichtet worden ist. Synchron zum Kampfgeschehen werden verwundete Soldaten in Wellen eingeliefert. »Die Verbände sind durchgeblutet, oft verkleistert. Uniformen, gar Stiefel auszuziehen bedeutet ein Kunststück. Es stöhnt und wimmert überall. Wir kommen nicht mehr zur Besinnung.«
Als in einem Regiment Typhus ausbricht, muss das Lazarett eine Seuchenstation einrichten. Für Ärzte und Pfleger der Ansteckungsgefahr wegen der gefährlichste Arbeitsplatz. Für die Insassen bestehen nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie sterben, oder sie werden als geheilt entlassen. Aber sie werden nicht, wie sonst üblich, bei Besserung in rückwärtige Krankenhäuser verlegt. So will man die Gefahr von Epidemien verringern.
Tag für Tag ist Helene Mierisch mit den Folgen des Krieges konfrontiert: »Es ist Nacht, ich sitze an einem Sterbebett, langsam geht wieder eine Seele hinüber. Ich schreibe nur, um mich wach zu halten. Drei Briefe an Angehörige liegen fertig da.« Wenn ihre Kräfte doch einmal ermatten, rafft sie sich selbst wieder auf. »Nichts da, hier gibt es nur eines: helfen.« Da ist sicher eine gehörige Portion Fanatismus dabei, doch ihr
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