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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Schomann
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Granatsplitterverletzungen zu tun. Kleinste Splitter können mit einem Magneten extrahiert werden, doch oft muss der Augapfel entfernt werden. Das Bild der klaffenden Höhle im Schädel verfolgt sie bis in ihre Träume. Die Verwundeten kommen direkt vom Hauptverbandsplatz. Einem Soldaten wurde ein Zettel an die Uniform geheftet: »Weiß bisher nur vom Verlust eines Auges.« Ein anderer hat im Urlaub geheiratet, drei Tage nach seiner Rückkehr an die Front wird er blind ins Lazarett eingeliefert.
    Immer wieder werden die Schwestern verlegt, abgezogen und erneut in Marsch gesetzt. Die Lazarette werden meist notdürftig in Verwaltungsgebäuden oder Schulen eingerichtet und sind entsprechend primitiv ausgestattet. Die Quartiere strotzen vor Ungeziefer, und über Monate hinweg stehen weder Bad noch Toiletten zur Verfügung, nur eine Waschschüssel und eine Latrine hinterm Haus oder ein Maisfeld. Täglich bekommen sie Erbensuppe mit kleinen schwarzen Käfern vorgesetzt. Der große Topf dient gleichzeitig zum Teekochen, zur Desinfektion der Instrumente und zum Waschen der Schürzen. Einmal bereiten sie auch ein seltenes Festmahl darin zu: ein Hühnchen.
    Im nächsten Einsatzort ist das Lazarett in einem Kino eingerichtet worden. Zunächst wird Gehlert der Station für Leichtverletzte auf dem ersten Rang zugeteilt. Erst einige Tage später führt der Pathologe sie ins Parkett: »In Zeltplanen gewickelt lagen dort die Toten, stoßweise aufeinander, drei längs, drei quer, der Saal damit gefüllt.« Sie werden nur sporadisch abgeholt, die Gräber müssen gesprengt werden, da der Frost tief ins Erdreich geht. »Welch ein Irrsinn, dieser Krieg.« Aus dem Filzhut ihrer Uniform schneidet sie sich Einlegesohlen für die Schuhe.
    In Charkow findet sie zunächst erträglichere Bedingungen vor. Sogar die Oper wird wieder eröffnet, wenn auch nicht beheizt, und so kommt Schwester Edith in den Genuss von Tschaikowskis Eugen Onegin . »Einmal wieder Musik hören – unsagbar schön.« Beim Nachtdienst freundet sie sich mit einem jungen Sanitäter an, der sich durch besondere Rührigkeit und Hilfsbereitschaft auszeichnet. Eines Abends wendet er sich mit einem privaten Anliegen an die Schwestern: Er habe im Heimaturlaub ein Mädchen kennengelernt und würde ihm gern schreiben. Er sei aber in diesen Dingen unbeholfen und nach dem Dienst auch zu müde. Ob sie ihm beistehen könnten? Eine reizende Korrespondenz nimmt ihren Lauf. Ob nun die Tugenden des jungen Mannes den Ausschlag geben oder die Einflüsterungen seiner Sekretärinnen – jedenfalls heiraten die beiden per Ferntrauung. Wenige Wochen später wird er nach Stalingrad beordert, und niemand hört je wieder von ihm.

    Behelfsmäßiges Lazarett für Soldaten der Wehrmacht in einer Schule im nordfranzösischen Saint-Omer.
    © K. Friedrich / DRK
    Dann wird Charkow von den Russen eingekesselt. Die Lage scheint derart bedrohlich, dass der Oberarzt das Lazarett zur Übergabe vorbereitet und die Schwestern fragt, ob sie Gefangenschaft oder eine Kugel vorzögen. Edith Gehlert ringt mit sich: »Ein schneller Tod kann doch nicht schwer sein. In russische Gefangenschaft wollte ich nicht gehen.« In letzter Minute gelingt den Truppen ein Durchbruch, die Schwestern können evakuiert werden. Anfang 1943 verschlägt es sie schließlich nach Stalino (Donezk). Bis zur Einkesselung von Stalingrad war es dessen wichtigste Nachschubbasis gewesen. Mit der letzten Maschine sind von dort gut vierzig Verwundete gekommen. Darunter ein Arzt, dessen Oberschenkel und Gesäß von Granatsplittern zerfetzt und, wie sich herausstellt, böse infiziert sind. »Gasbrand«, dämmert es ihm. »Hätte ich das gewußt, hätte ich den Platz im Flugzeug einem anderen gegönnt.« Sein Leben endet noch auf dem Operationstisch.
    In den Räumen des Lazaretts türmen sich Berge von Weihnachtspäckchen für die 6. Armee, eine riesige Streitmacht, größer als die gesamte heutige Bundeswehr. Eine Zustellung ist nicht mehr möglich; die Armee wird fast komplett aufgerieben. Über mehrere Tage hinweg packen Schwestern und Pfleger all die herrenlosen Geschenke aus und verteilen Christstollen, Wollsocken und Weihnachtsplätzchen an ihre Verwundeten. Die beiliegenden Briefe verbrennen sie.
    Häuser und ihre Schicksale
    Anfang des Jahres 1943 kann der Neubau des DRK -Präsidiums in Potsdam-Babelsberg bezogen werden: ein wuchtiger, zweihundert Meter langer Gebäuderiegel, aber doch im Vergleich zu reinen Propagandabauten nicht

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