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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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jedem Schritt. Als die Kohle rot glühte, schüttete sie Weihrauchpulver hinein. Im goldenen Schattenspiel sah ich zu, wie die Priesterin mithilfe eines Eisenringes eine der Steinplatten anhob, die ein Geheimfach zum Vorschein brachte. Sie entnahm ihm ein Kästchen aus Ebenholz und stellte es vor mich hin. Ihre zarten Finger ließen das Schloss aufschnappen. In dem Kästchen befand sich ein Bambuskamm, der mit drei Kugeln aus durchscheinendem schwarzen Metall verziert war.
    Â»Dieser Kamm«, sprach die Hüterin des Feuers, »ist das sichtbare Zeichen deiner Unterweisung und verleiht dir die heilige Macht der Sonnenpriesterinnen. Jedoch, selbst wenn Prinzen und Könige sich vor dir verneigen, vergiss niemals, dass nur die Demut zur vollkommenen Weisheit führt.«
    Ich senkte den Kopf und ließ sie den Kamm in meinem Haar befestigen. Als ich den Kopf hob, vernahm ich das glockenhelle Klingeln der schwarzen Kugeln. In dem Dunst, der aus den Räucherschalen emporstieg, schien das bleiche Antlitz der Priesterin in der Luft zu schweben wie eine Erscheinung.
    Â»Wisse nun, warum du nach deinem Tode nicht bei deinen Vorfahren ruhen kannst …« Ein tiefer Seufzer hob ihre Brust, doch mit gelassener Stimme fuhr sie fort: »Der Tag ist nicht mehr fern, an dem die Heilige Insel im Ozean versinken wird …«
    Mein ganzer Körper erstarrte, und mir war, als verursachte mein Atem in der Stille ein störendes Geräusch.
    Â»Wann ist es zu erwarten?«, brachte ich rau über die Lippen.
    Â»Ich fürchte, bald. Seit der Frühlings-Tagundnachtgleiche sind die unterirdischen Stöße stärker geworden. Ein schreckliches Erdbeben steht uns bevor. Denke immer daran: Sobald die Wellen bis zum Horizont zurückweichen und du die Heilige Insel trockenen Fußes erreichen kannst, an diesem Tag versammle das Volk und führe es in die Berge. Denn die See wird zurückkehren und mit fürchterlicher Gewalt das Land überfluten …«
    Ich schluckte würgend.
    Â»Warum ich und nicht meine Mutter, die Königin?«
    Â»Siehst du, meine Tochter«, sagte die Priesterin sanft, »auch das ist ein Teil der unvermeidlichen Höheren Ordnung.«
    Ich presste die Lippen zusammen und schwieg. Die Priesterin sah mich an. In ihrem bleichen Gesicht schimmerten die Augen wie zwei tiefe nachtschwarze Brunnen.
    Â»Noch eins musst du wissen: Während deiner Abwesenheit hat sich in Amôda etwas sehr Merkwürdiges und Folgenschweres zugetragen. Zahlreiche Prüfungen stehen dir bevor. Wenn du auch oftmals verzweifeln wirst, vertraue stets deiner Seelenstärke. Der Heilige Kamm wird dich mit seiner wohltätigen Kraft unterstützen. Und vergiss nie: Die eigentliche Wirklichkeit liegt nicht im äußeren Schein; selbst deine unbegreiflichsten Handlungen gehorchen dem Antrieb einer Höheren Macht.« Der Schatten eines Lächelns glitt über ihre Lippen. »Bist du nicht das zweifach königliche Wesen ?«
    Ihre Stimme schien das Echo aller Stimmen zu sein, die in meinem Kopf wiederholten: »Du bist die Tochter des Hirsches!« Und im gleichen Augenblick wurde mir klar, dass ich das Geheimnis meiner Geburt bereits kannte. Doch ich gebot dieser Erkenntnis vor den Pforten meines Unterbewusstseins Halt, verborgen in einem Abgrund von schwindelerregendem Schwarz. Doch jenseits dieses Abgrundes war ein Gesicht, war ein Name …
    Ich wollte sprechen. Die Hand der Priesterin hob sich und mit ihr der wie ein weißer Flügel schwebende Ärmel. »Frage nicht mehr! Deine Seele würde beunruhigt sein. Du benötigst jetzt alle Kräfte, um die Aufgaben, die deiner harren, zu erfüllen. Eines Tages wirst du die Wahrheit erkennen, aber sie wird dich zu Tode verwunden.«
    Etwas wie Mitleid schimmerte in ihren Augen. Sie erhob sich geräuschlos. »Mein Auftrag ist nun erfüllt. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen.«

    Bei Tagesanbruch schlug ich die Augen auf und war sogleich hellwach. Etwas hatte mich aus dem Schlaf gerissen. Was war es nur gewesen? Ich war es gewohnt, die Zeit nach der Länge der Schatten, die die Sonne warf, zu messen, doch heute war etwas nicht, wie es sein sollte. Die Sonne musste bereits aufgegangen sein, aber kein Lichtstrahl fiel in den Raum. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, gefangen zu sein in diesem mächtigen, düsteren Bauwerk. Beunruhigt stand ich auf, blickte durch die Wandöffnung nach draußen.

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