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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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weit und breit zu sehen. Wo waren die Fischer, die die Netze einholten? Die Handwerker? Die Händler? Wo waren der Lärm, die Zurufe, das Gelächter, das Klappern der Holzsandalen? Das fröhliche Kommen und Gehen auf dem Markt? Der vertraute Geruch nach Holzkohle, Gewürzen und Tee? Lähmender Schrecken befiel mich. Was war in Amôda geschehen? Welch drohende Gefahr hatte die Menschen zur Flucht getrieben? Schwefliger Gestank verpestete die Luft. Die Bäche, die zwischen den waldigen Hügeln hervorströmten und sich ins Meer ergossen, waren rötlich verfärbt. Ich machte das Boot an einem Stein fest, taumelte erschöpft ans Ufer. Die Häuser wirkten wie verlassen, doch auf einmal bemerkte ich, wie sich ein Türvorhang bewegte. Erst jetzt wurde mir klar, dass mich seit meiner Ankunft im Hafen Hunderte von Augen beobachteten. Die Leute von Amôda hatten ihre Behausungen nicht verlassen, sondern hielten sich darin verborgen. Auf wessen Befehl? In Erwartung welch schrecklichen Unheils?
    Es war wie ein Albtraum! So etwas konnte sich nur in einem Albtraum abspielen! In quälender Angst schlug ich den Weg zur Festung ein. Ich schleppte mich durch leere Straßen, an verlassenen Läden vorbei. Die Leute hatten ihre Strohsandalen vor den Türen stehen lassen, doch kein Feuer brannte, keine Stimme ertönte. Nur einmal hörte ich aus einem der Häuser das schwache Wimmern eines Säuglings.
    Der Wasserspiegel des Wallgrabens war stark gesunken. Einige Fische zuckten im stinkenden Schlamm. Ich atmete erleichtert auf, als ich den Wachtposten vor dem Ausfalltor erblickte. Er war das erste menschliche Wesen, das ich seit meiner Rückkehr zu Gesicht bekam. Nun hob er seinen Speer und seine bronzene Rüstung warf einen matten Schimmer. Ich trat auf ihn zu. Er erkannte mich, senkte die Waffe und grüßte ehrerbietig.
    Â»Was ist geschehen?«, keuchte ich. »Antworte!«
    Der Mann straffte die Schultern. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß.
    Â»Verzeiht, Toyo-Hirume-no-Miko«, stieß er gepresst hervor. »Ein großes Unglück ist über uns gekommen. Seitdem sich Ihre Königliche Majestät fern von Amôda zurückgezogen hat, verhüllt die Sonne ihr Antlitz, und die Wolken ihres Zornes verdunkeln den Himmel …«
    Ich starrte ihn an. Niemals, so weit ich zurückdenken konnte, hatte meine Mutter den geheiligten Palastbezirk verlassen. Welch ungeheures Ereignis musste sie dazu bewogen haben?
    Der Mann wirkte derart verstört, dass ich darauf verzichtete, ihn weiter zu befragen. Ich lief an ihm vorbei, durch den finsteren Torbogen. Auf der Schwelle des Innenhofes blieb ich atemlos stehen. Pechschwarz hingen die Mauern über der hell schimmernden Sandfläche. Jede Säule warf einen tiefen Schatten. Drohend wie Raubtierzähne bohrten sich Zinnen und Türme in den rötlichen Himmel.
    In der Mitte des Hofes, zwischen zwei Pfähle gespannt, hing etwas, was mir zuerst wie ein größeres Stofflaken vorkam. Der Anblick traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich fühlte meine Knie unter mir nachgeben. Schritt für Schritt, von Grauen gepackt, näherte ich mich dem unheimlichen Gegenstand, bis mir ein dumpfer, abstoßender Geruch in die Nase stieg. Summend flog ein Fliegenschwarm auf; eine setzte sich auf meinen Mundwinkel. Ich hob die Hand, verscheuchte sie. Dann sah ich das Blut auf der Erde. Verspritzte Tropfen im Sand führten zu einer Lache unter dem aufgehängten Gegenstand. Mit einem Mal entdeckte ich, dass es sich um eine Tierhaut handelte. Die längliche Kopfform und die vier Beine waren deutlich zu erkennen. Lange verfilzte Haare, steif von geronnenem Blut, hingen wie schwarze Fransen bis zum Boden. Meine Augen vermochten sich nicht von dem von Blut erstarrten Gebilde loszureißen. Und dann wusste ich plötzlich, was ich vor mir sah: Es war das Fell von Hi-Uma, dem Himmlischen Pferd.
    Mein Herzschlag setzte aus. Alles um mich herum begann zu wanken. Der Hof, die Mauern drehten sich im Kreise. Ich glaubte, ohnmächtig zu werden, doch hielt ich mich auf den Beinen. Die Fliegen summten, schwirrten, klebten an der blutverkrusteten Haut.
    Mit einem Mal spürte ich, dass ich nicht mehr allein war. Schemenhafte Gestalten zeichneten sich an der Grenze zwischen Hell und Dunkel ab, drängten in merkwürdiger Stille in den Hof. Ich vernahm das Gleiten der Schiebetüren, das Schleifen der Gewänder über die

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