Im Zeichen der Roten Sonne
der Kreuzung zweier StraÃen. Nebelschwaden hingen über dem geschweiften Strohdach. Eine Mauer aus Felsblöcken umgab das Haus. Die hölzernen Torflügel waren geöffnet: Zahlreiche Diener kamen und gingen. Unter einem Schutzdach waren prächtig gezäumte und gesattelte Pferde. Ihre Felle - braunrot, schwarz und weià - glänzten wie Seide unter ihrem Harnisch aus feinen eisernen Plättchen. Mein Herz schlug aufgeregt: Wenn es mir gelingen würde, eines dieser Pferde zu kaufen oder zu mieten, könnte ich die verlorene Zeit wieder einholen. Schon stellten die Träger die Sänfte im Hof vor dem Hauptgebäude ab. Zwei Männer im Lendenschurz wuschen sich an einem Brunnen. Rauch stieg aus einem kleinen Badehaus. Eimer mit heiÃem Wasser, Spucknäpfe und saubere Handtücher waren für die Gäste bereitgestellt. Ich stieg ein paar Stufen hinauf. Im groÃen Gemeinschaftsraum roch es nach Holzrauch, Fett und Talg. Im Halbdunkel saà eine Gruppe von Männern - offenbar Kaufleute - um das Herdfeuer und schlürften Tee. Ich beobachtete sie verstohlen. Waren sie die Besitzer der Pferde?
Ich beschloss zu handeln und schickte nach dem Wirt, der dienstbeflissen herbeigeeilt kam. Ich lieà ihn wissen, dass ich eines der drauÃen stehenden Pferde zu erwerben wünschte, und bat ihn, sich als Vermittler bei den Kaufleuten für mich einzusetzen.
»Werte Dame«, entgegnete der Wirt, »diese Pferde gehören nicht den Kaufleuten, sondern dem Verehrungswürdigen Cho-She, Bevollmächtigter am Hofe unseres Herrschers, und seinem Gefolge. Er geruhte, auf dem Weg in die Hauptstadt meine armselige Herberge zu beehren, und wird bei Sonnenaufgang die Reise fortsetzen.«
Die Göttin schickte ihn mir! Ich lieà das »Tama« von meinem rechten Handgelenk gleiten und hielt es dem Wirt hin. »Ãberreiche dieses Armband dem Verehrungswürdigen Cho-She und sage ihm, dass seine Trägerin um eine Unterredung bittet.«
Der Wirt huschte davon. Kurz darauf kam er zurück, und an der Art, wie er sich vor mir verbeugte, merkte ich, dass mir das Schicksal wohlgesinnt war. »Der Verehrungswürdige Cho-She steht Euch für ein Gespräch zur Verfügung.«
Durch Gänge, in denen sich mit Gepäck beladene Diener drängten, geleitete mich der Wirt in den für hohe Gäste bestimmten Flügel des Gebäudes. Männer der Begleitmannschaft warteten in einem Vorzimmer. Ich wurde in einen spärlich, aber bequem ausgestatteten Raum geführt. Cho-She saà bereits reisefertig auf einer Matte. Sein Schwert lag griffbereit vor seinen gekreuzten Beinen. Alles an ihm - die erlesene Seide seiner Gewänder, seine Rüstung aus glänzenden Bronzeschuppen, das schmiegsame Leder seiner Stiefel - zeugte von Reichtum und Macht. An seinem schweren goldenen Gürtel hing das traditionelle Sattelzubehör der tungusischen Reiter: ein Messer, ein Spiegel, ein Wetzstein und ein Feuerstein. Er hatte ein groÃflächiges, stolzes Gesicht, breite Wangenknochen und durchdringende Augen. Sein Haar war mit duftendem Ãl eingerieben und zu dem üblichen Knoten hochgesteckt. Er begrüÃte mich mit vollendeter Höflichkeit.
»Welch glücklichem Zufall verdanke ich die Ehre, Toyo-Hirume-no-Miko, der Tochter der Sonnenkönigin von Yamatai, an diesem Ort zu begegnen?«
»Ihr wisst also, wer ich bin?«
»Wie sollte ich nicht?«, lächelte Cho-She. »Nur die Kinder der göttlichen Linie tragen die heiligen âºTamasâ¹, die Zeichen des Bundes mit der Unsichtbaren Welt.«
»Sire«, sagte ich, »verzeiht meine Kühnheit. Eure Gegenwart befreit mich von quälender Sorge. Ereignisse von gröÃter Tragweite sind Anlass meiner Reise.«
»Zweifelt nicht an meiner Bereitschaft, mich Eures Vertrauens würdig zu erweisen«, erwiderte Cho-She mit seiner wohlklingenden Stimme. »Doch gönnt Euch zunächst die Zeit, Euch ein wenig zu erfrischen.«
»Danke, Sire.«
Er gab ein Zeichen. Eine Dienerin brachte mir feucht dampfende Tücher, um Gesicht und Hände zu erfrischen. Ich leerte eine Schüssel scharf gewürzter Suppe und aà einige Reiskugeln. Cho-She hatte mich zum Essen allein gelassen. Er kam zurück, als ich fertig war. Wir tranken Jasmintee und nahmen unser Gespräch wieder auf. Ich teilte ihm die Umstände der Belagerung Amôdas mit und verheimlichte ihm nichts von dem
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