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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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einer der Herren vielleicht das Glück gehabt, dabeisein zu können?«
    Nein, keiner, antworteten sie.
    »Muß leider sagen, daß Sie das größte Spektakel in der ganzen Schöpfung verpaßt haben. Ursprünglich hatten die Stadtväter der Welt zeigen wollen, wie Chicago sich von dem großen Brand im Jahre ’71 erholt hatte, aber bald wurde klar, daß die unsichtbaren Mächte, die sich zuweilen miteinander verschworen, um dem Fortschritt der Menschheit einen kleinen Anschub zu geben, etwas Bedeutsameres im Sinn hatten. Mitten in unserer schlimmsten Wirtschaftskrise seit vierzig Jahren wurde die Ausstellung von siebenundzwanzig Millionen Menschen besucht; das ist fast die Hälfte der Bevölkerung in unserem Land. Und mit den Bestrebungen meiner Firma und denen unserer Konkurrenten war es das meistfotografierte Ereignis der Menschheitsgeschichte.«
    Eine gleißende Flut von Bildern sprudelte über die Leinwand: Ausstellungshallen voll gargantuesker Fabrikationsobjekte, Dynamos, hydro-elektrische Kraftanlagen, Maschinen-Modelle aus dem neuen Goldenen Zeitalter der Wissenschaft. Ein ganzes Gebäude mit Turbinen und Generatoren, anscheinend das Werk eines Volkes von Riesen. Dampfgetriebene Feuerwehrwagen. Pferdelose Kutschen. Die neuesten Fortschritte des luxuriösen Eisenbahnverkehrs, prachtvoll ausgerüstete Schlafwagen mit seidenen Vorhängen und silbernen Waschbecken. Im zentralen Ausstellungsraum ragte ein elektrischer Turm bis an die Decke der gewaltigen Stahlhalle, und die Worte ›Edison Light‹ umkreisten blitzend die Spitze. Doyle beobachtete, wie die flackernden Schatten auf Edisons Gesicht spielten und dachte staunend an den Reichtum der Inspiration, die den Geist dieses Mannes beseelen mußte: ein Pate des marschierenden Fortschritts, dessen Zeuge sie waren.
    In einem eigenen Pavillon waren Edisons Erfindungen von morgen‹ ausgestellt, Maschinen, die den Prophezeiungen nach Männern, Frauen und Kindern zu einem besseren Leben verhelfen würden: Staubsauger, Waschmaschinen, Kühl- und Eisschränke. Und das Verblüffendste: das Telektroskop, eine Bildröhre, die – wenn sie erst vervollkommnet wäre – wie ein Fernrohr einem Mann in New York erlauben würde, das Gesicht seines Freundes in Chicago zu sehen, als ständen sie einander gegenüber.
    Auf einem Vergnügungsgelände namens Midway ragte ein gigantisches Rad aus Licht mit schwingenden Gondeln in den Himmel; erfunden von einem Einheimischen namens George Washington Ferris – wie Edison ihnen erzählte –, beförderte es Fahrgäste in einem feurigen Kreis auf und ab und herum, als ob ein Wunder vom Olymp herabgefallen sei in den Bezirk der Sterblichen. Eine schwindelerregende Aufnahme zeigte die Sicht, die man von den kreisenden Gondeln aus hatte; auf dem Scheitelpunkt breitete sich das Ausstellungsgelände unter dem Rad aus wie die Morgendämmerung einer neuen Zivilisation.
    »Zweihundertfünfzig Fuß hoch. Unser Kameramann wäre beinahe ohnmächtig geworden und in den Tod gestürzt«, berichtete Edison.
    Die nächsten Bilder zeigten Gruppen von Männern und Frauen, die sich auf den Treppen vor den verschiedenen Ausstellungspavillons versammelt hatten; in der Mitte der weitwinkligen Aufnahmen offenbarten Transparente die Identität der jeweiligen Organisation – der Panamerikanische Verband der Pferdezüchter, der Chicago Club, der Vereinigte Frauenkongreß –, und jedesmal folgten Aufnahmen aus größerer Nähe, bei denen die Kamera langsam über die reglos dastehende Mitgliederschaft schwenkte; die meisten Leute waren daran gewöhnt, für Fotografen zu posieren, und verharrten statuengleich mit einem unerschütterlichen Lächeln auf dem Gesicht.
    Das ist zwar alles sehr interessant, dachte Doyle, aber er war doch im Begriff, zu fragen: Was soll das?
    Dann kam das Parlament der Internationalen Religionen, eine der größten Gruppen, ins Bild, ein Schwarm von Geistlichen, die ihr Transparent sowie ein zweites Plakat umdrängten, auf dem stand: Nicht Menschen, sondern Ideen. Nicht Materie, sondern Geist.
    Lionel Stern beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. Die Nahaufnahmen begannen: Bischöfe, Kardinäle, Diakone, Vikare; Protestanten und Katholiken mit ihren Klerikerkragen standen Schulter an Schulter mit Rabbis, orthodoxen wie auch den zeitgemäßer gekleideten reformierten -
    »Da, da ist er, da ist mein Vater!« rief Lionel Stern und sprang nach vorn zur Leinwand, um auf eine kurz erfaßte eckige Gestalt in der Mitte der Gruppe zu deuten.

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