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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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was. Wenn man es aus dieser Perspektive betrachtet, ist der Messias im großen Prunkzug des Lebens nur eine der interessanteren Figuren.«
    »Und welche Art von Ereignissen könnte diese Messiasse hervortreten lassen?«
    »Ich vermute, das übliche Elend – Katastrophen, Pestilenz, Apokalypse. Unser Held braucht einen guten Auftritt. Obgleich Er ja nach dieser Theorie schon die ganze Zeit vor uns steht, ohne daß es jemand merkt.«
    »Was geschieht mit diesen Leuten, wenn sie nicht zu Auserwählten werden?« fragte sie.
    »Sie leben ihr Leben und sterben in Frieden, die Glückspilze.«
    »Ohne je zu wissen, welche Rolle sie vielleicht hätten spielen können.«
    »Hoffen wir es um ihretwillen. Messias – was für ein schrecklicher Beruf. Jeder wirft sich einem vor die Füße und bittet um Heilung für seinen Rheumatismus. Bei jeder Äußerung wird erwartet, daß Perlen der Weisheit zu Boden fallen. Soviel Schmerz und Leid, und am Ende nie ein gutes Wort.«
    »Da wir gerade vom Kreuzigen reden – hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich bewege? Ich bekomme sonst einen krummen Nacken.«
    »Ganz und gar nicht. Bin fast fertig«, sagte er, und seine Zungenspitze spielte konzentriert auf der Oberlippe.
    Eileen entspannte sich und drehte sich in die andere Richtung, um an Jacob vorbei aus dem Fenster gegenüber zu schauen. »Sagen Sie, mir war nie recht klar, was der Messias genau für uns tun soll, wenn Er zurückkommt.«
    »In diesem Punkt herrscht bemerkenswerte Uneinigkeit. Einer Lehrmeinung zufolge wird Er gerade noch rechtzeitig vom Himmel herabkommen, um die Welt vor der ewigen Finsternis zu erretten. Andere glauben, Er werde mit dem Racheschwert in der Faust erscheinen, um zu richten die Bösen und zu belohnen die Gläubigen, von denen es aber nur ungefähr zwölf Stück gibt. Eine dritte Version behauptet, wenn nur genug Menschen sich besinnen und den Pfad der Rechtschaffenheit beschreiten, dann wird Er sofort kommen und uns alle durch das Himmelstor führen.«
    »Vermutlich kommt es darauf an, mit wem man redet.«
    »Von den zwei Dritteln der Welt, die überhaupt nicht an diese Ideen glauben, ganz zu schweigen.«
    »Was glauben Sie denn, Jacob?«
    »Da ich zu dem Schluß gekommen bin, daß es sich hier um ein Gebiet handelt, auf dem ich nur schwindelerregende Unwissenheit offenbaren kann, habe ich entschieden, daß diese Frage viel zu wichtig ist, als daß man sie mit irgendwelcher Gewißheit beantworten könnte.«
    »Überlassen wir die Gewißheit den Fanatikern, meinen Sie.«
    »Genau. Ich bevorzuge die Methode des Abwartens. Entweder werde ich es herausfinden, wenn ich sterbe, oder eben nicht.« Er lachte herzlich, drehte seinen Skizzenblock um und zeigte ihr das fertige Porträt. Seine Hand war sicher und sein Auge scharf; ihre Züge waren treffend wiedergegeben – die hohen Wangenknochen, der dramatische Schwung ihrer dunklen Brauen –, aber die Ähnlichkeit reichte über Äußerlichkeiten hinaus tiefer.
    Er hat meinen Charakter eingefangen, durchfuhr es sie: den Stolz, den Mutwillen, die tiefsitzende Verwundbarkeit. Er hatte die Schalen ihrer erworbenen Härte durchdrungen und die romantische Idealistin darunter gefunden. Eine Schauspielerin verbrachte unnatürlich viel Zeit vor dem Spiegel und betrachtete den Zustand ihres Gesichts – in ständiger Wachsamkeit hielt sie ihre Bastionen in Schuß und kämpfte gegen jede Falte, jede schlaffe Stelle –, aber diese vergessene Sanftheit hatte sie so lange nicht mehr gesehen, daß der Anblick ihr die Tränen in die Augen trieb.
    War das naive Mädchen aus Manchester mit dem frischen Gesicht denn noch in ihr? Sie kam sich albern vor, weil sie hier über derart verlorenes Gelände weinte, aber jener jugendliche Teil ihrer Natur war gut und wahr gewesen, und Jacob hatte ihn deutlich gesehen. Sie sah die gütige, offene Zärtlichkeit in seinen azurblauen Augen, und ausnahmsweise machte sie sich keine Sorgen, ob ihr Haar zerzaust oder ihr Make-up ruiniert sein könnte.
    Was will dieser Mann von mir? fragte sie sich. Vielleicht gar nichts. Was für ein schockierender Gedanke.
    Sie wollte ihm das Porträt zurückgeben, aber er bestand darauf, daß sie es behielt. Sie schaute weg, trocknete sich die Augen, putzte sich die Nase – es klang wie eine Trompete in ihren Ohren, wie attraktiv – und schluckte ein brüchiges Dankeschön herunter.
    »Wenn Sie mich für einen Augenblick entschuldigen wollen«, sagte Jacob und stand auf. Sie nickte, dankbar dafür, daß er

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