Im Zeichen der Sechs
vermutet.
»Stürzen und wieder auferstehen«, sagte Jacob. »Aus der Asche.«
»Ein weiter Weg.« Der Mann zuckte die Achseln und meinte damit seinen eigenen beeinträchtigten Zustand. Er legte das Schwert wieder neben seinen kleinen Gefährten und tat einen flachen, schmerzhaften Atemzug.
»Wie schwer sind Sie verletzt, mein Freund?«
»Pistolenschuß. Im Rücken getroffen, unter linker Schulter.«
»Möchten Sie, daß ich es mir ansehe?«
»Sie sind Arzt?«
»Das nächstbeste«, sagte Jacob. »Priester.«
Die Augen des Mannes leuchteten auf, und gleichzeitig zog er zweifelnd die Stirn kraus. »Sie? Priester?«
»Na, wie Sie mich ansehen.«
»Sie sehen nicht aus wie ein Priester.«
»Priester, Rabbi, was ist der Unterschied?« sagte Jacob und half ihm, den Uniformrock von den Schultern zu streifen. »Wo haben Sie Englisch sprechen gelernt?«
»Bei einem Priester. Er war katholisch.«
»Ah – nun, sehen Sie, es gibt Priester, und es gibt Priester.«
Der rohe Verband um seinen Rücken war hart von getrocknetem Blut; in seiner Mitte sickerte immer noch ein frischer dunkler Fleck durch den Stoff.
»Ich bin auch Priester«, sagte der Mann.
»Sind Sie Buddhist?«
» Shinto.«
»Also sind Sie Japaner.«
»Sie haben von shinto gehört?«
»Ich habe davon gelesen, und ich habe shinto -Priester aus Ihrem Land kennengelernt, voriges Jahr in Chicago. Von welcher Insel kommen Sie?«
»Hokkaido.«
»Diese Männer stammten aus Honshu.«
» Hai. Großstadtmänner.«
» Shinto bedeutet ›Weg der Götter‹, nicht wahr?«
Jacob entfernte vorsichtig den Verband; der Mann zuckte leicht zusammen, als die letzte Musselinschicht eine dicke Blutkruste von der Wunde riß. Dicht unter dem Schulterblatt saß ein kleines, rundes Loch. Hämatomverfärbung rings um die Einschußstelle, aber noch keine Rötung, keine Infektion.
»Ja. Kami-no-michi«, sagte der Mann; seine Stimme verriet nicht, daß ihm Jacobs Untersuchung unangenehm war. »Kami bedeutet ›höher‹. Die Götter über uns.«
Die Kugel war ins Muskelfleisch des Rückens eingedrungen, von einer Rippe abgeprallt, hatte sich gedreht und war an der Flanke wieder ausgetreten; auch dort war ein Loch, ein größeres, zwei Zoll tiefer. Die Atmung des Mannes war nicht beeinträchtigt; die Lunge mußte also unverletzt sein, dachte Jacob und kam sich ein bißchen lächerlich vor. Was bin ich jetzt plötzlich – ein Chirurg?
»Sie können den Göttern danken, daß Sie jetzt nicht bei ihnen wandeln«, sagte er und hatte seine eigenen Gebrechen für den Augenblick vergessen. »Wir brauchen etwas, um die Wunde zu reinigen.«
»Alkohol.«
»Sie haben Glück; vor uns ist ein ganzer Waggon voller Schauspieler. Wo haben Sie diesen Verband gefunden?«
Der Mann deutete auf eine Rolle Baumwollmull in einer Truhe in der Nähe.
»Ein regelrechtes Krankenhaus hier hinten.« Jacob nahm den Baumwollstoff aus der Truhe und machte sich daran, eine Kompresse zu falten. »Erzählen Sie mir von diesem Priester, der Ihnen Englisch beigebracht hat.«
»Er hat in unserem Tempel gewohnt. Amerikanischer Missionar.«
»Wollte Sie bekehren, nicht wahr?«
»Am Ende haben wir ihn bekehrt. Er ist immer noch da.«
»Eine Hand wäscht die andere. Ich hole jetzt besser den Alkohol.«
Einen verlegenen Augenblick lang rührte Jacob sich nicht. Würde der Mann ihm so weit vertrauen, daß er ihn gehen ließ? Anscheinend; er drehte sich nicht einmal um.
»Wo haben Sie über shinto gelesen?« fragte der Mann.
»In einem Buch in meiner Bibliothek daheim, ins Englische übersetzt natürlich. Ich erinnere mich nicht an den Titel –«
»Das Kojiki?«
»Ja. Ich glaube, das war es.«
»Wo haben Sie dieses Buch gefunden?«
»Einer der shinto-Priester hat es mir letztes Jahr in Chicago während des Kongresses gegeben; er sagte, es sei die erste Übersetzung, die davon gemacht worden sei.«
»Haben Sie noch irgendeine andere Ausgabe gesehen?« fragte der Mann, und jetzt drehte er sich um und schaute ihn mit wilder Eindringlichkeit an. »Eine japanische?«
»Nein«, sagte Jacob, aber die Frage klang seltsam sinnvoll; in seinem Hinterkopf fügte sich irgend etwas zusammen, aber er konnte noch nicht genau definieren, was es war. »Warum?«
Der Mann starrte ihn mit seinen seltsam glanzlosen Augen an. »Das Kojiki, das erste Buch, wurde aus unserem Tempel gestohlen.«
»Ich dachte mir, daß Sie das sagen würden«, antwortete Jacob.
26. SEPTEMBER 1894
Unser Zug verließ das Grand Central
Weitere Kostenlose Bücher