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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Depot heute morgen um Punkt elf Uhr – mehr als alles andere sind die Amerikaner besessene Pünktlichkeitsfanatiker. Wir fahren mit dem Exposition Flyer, einem Expreß, der im vergangenen Jahr eingeführt wurde, um den An- und Abreiseverkehr der ’Weltausstellung zu bewältigen. Wir werden die achthundert Meilen nach Chicago in weniger als zwanzig Stunden zurücklegen, was ebenso außergewöhnlich ist wie die luxuriöse Einrichtung des Zuges, ein Luxus der ersten Ordnung. Der Kampf um den Dollar des Kunden ist die Triebfeder für alles hier. Größer, schneller, stärker – der Fetisch des Fortschritts ist unsterblich. In einem Land ohne große Geschichte sind die Gedanken der Menschen unweigerlich – und manchmal in ermüdender Weise – in die Zukunft gerichtet. Bevor sie sich indessen als wahrhaft zivilisiert betrachten können, muß allerdings etwas gegen ihren unablässigen öffentlichen Gebrauch des Spucknapfes unternommen werden.
    Die breite Fläche des Hudson River begleitet uns auf unserem Weg nach Norden; der Zug hat soeben die äußersten Randbezirke der Stadt hinter sich gelassen, und was uns jetzt begrüßt, ist eine Orgie von Herbstfarben, wie ich sie in dieser Brillanz und Vielfalt noch nie gesehen habe. Wenn der Schöpfer unseres Universums ein Maler ist, so hat er seinen Farbkasten über diesen Wäldern ausgegossen: Rot und Braun, Zinnober, Violett, Bernsteingelb und Gold – und das alles von den Strahlen einer warmen Sonne zum Funkeln und Leuchten gebracht. Haivthorne hat diese Region seine Heimat genannt, Irving, Melville und Fenimore Cooper ebenfalls; sie ist von einer Inspirationskraft wie nichts sonst auf der Welt. Major Pepperman, unser unermüdlicher Gastgeber, nennt dieses prachtvolle Wetter ›Indianersommer‹. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Indianer im Schutze dieser Wälder leben und tun, was immer Indianer tun mögen – mit ihren Kanus umherpaddeln, ihre Pfeile abschießen und an den zerklüfteten Klippen emporklettern, die das westliche Ufer säumen.
    Ich habe eben die Korrespondenz des Vormittags beendet: Briefe an Louise, Notizen und Geschenke für die Kinder; Martha-Washington-Puppen für Martha und einen prächtigen Satz Zinnsoldaten für Kingsley – jetzt kann er die Amerikanische Revolution neu inszenieren und fortfahren, die Geschichte umzuschreiben. In einem Telegramm von Louise, das gestern kam, findet sich kein Wort über ihre Gesundheit; dies veranlaßt mich natürlich -gänzlich ohne Begründung – gleich, das Allerschlimmste zu vermuten.
    New York City hat mich ganz schön mitgenommen; noch ein paar Tage, und ich wäre womöglich erledigt gewesen. Was für ein Tempo! Erstaunlich, daß die Bewohner dort nicht jeden Abend umfallen und an Ort und Stelle einschlafen. Ich habe nie eine Stadt besucht, deren Bewohner mit solcher Zuversicht – man könnte sagen, mit solcher Arroganz – von ihrer eigenen Bedeutung überzeugt waren. Mag sein, daß die Stadt sich zu wahrer Größe anschickt, aber sie lassen es einen auch nie vergessen.
    Zwei Beobachtungen: jeder Mann, dem man auf der Straße begegnet, scheint ganz und gar in Anspruch genommen vom Baseball, einem einheimischen Spiel, das sich anscheinend vom Cricket herleitet, und sie sind gleichermaßen außerstande, seinen unfaßlichen Reiz mit den Mitteln der gewöhnlichen Rede verständlich zu machen. Die professionelle ›Saison‹ ist soeben mit einem Spektakel zu Ende gegangen, welches sie bescheiden als › World Series‹ bezeichnen, sonst hätte ich mir inzwischen sicher einen dieser Wettkämpfe angeschaut, und sei es nur, um das schwindelerregende und widersprüchliche Gestrüpp von Regeln und Vorschriften zu durchdringen, mit dem die begeisterten Anhänger den Unschuldigen nur allzugern verwirren. Und das zweite: Im Herzen einer Gegend, die sie Greenwich Village nennen, eines der am ersten besiedelten Bezirke der Stadt, liegt der Washington Square. Sein Eingang ist umrahmt von einem anmutigen Denkmal ihres Gründervaters, und es ist ein überaus bezaubernder und pittoresker Anger, eine regelrechte Oase des Friedens und der Stille, wie eine Stadt von dieser Größe sie sich nur wünschen kann. Hätte Holmes sich je in Amerika befunden, ich glaube, am Washington Square hätte er seine Zelte aufgeschlagen.
    Wir sind eine ziemlich merkwürdige Truppe geworden. Lionel Stern teilt sich ein Schlafwagenabteil mit Presto, dem Maharadscha von Berar – seltsamere Bettgenossen ließen sich kaum erfinden –,

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