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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Konsequenz kam ihnen dabei nicht in den Sinn, da sie in diesem Augenblick keinerlei erkennbare Bedeutung für sie hatte:
    Der kürzeste Weg dorthin würde sie unmittelbar am Water Tower in der Chicago Avenue vorbeiführen.
    Den ganzen Tag über hatten die Stimmen im Kopf von Dante Scruggs gesagt, heute abend werde sein Glück sich wenden. Das indianische Luder hatte fast eine Woche lang von früh bis spät vor dem verdammten Water Tower auf Posten gestanden, und erst kurz vor dem Dunkelwerden war sie in Windeseile zu ihrer Pension zurückgekehrt. Sie hatte sich keine Arbeit gesucht und war noch nicht in ein einziges Geschäft gegangen, und das war einfach nicht normal bei einer Frau. Sie stand immer nur da und starrte die Leute an, die vorbeigingen, und jede Stunde ließ sie sich von einer Seite des Gebäudes zur anderen treiben, wobei sie immer unter Menschen blieb und ihm nie auch nur die kleinste Gelegenheit gab, seinen Zug zu machen.
    Zuweilen fragte Dante sich schon, ob sie vielleicht spürte, daß er sie verfolgte; Indianer waren ziemlich gerissen in dieser Hinsicht, wie Tiere.
    Die Frustration begann in ihm hochzusteigen wie der Dampf im Kessel einer Lokomotive. Hatte er sich da etwa eine verdrehte Irre ausgesucht? Wenn dieses Luder verrückt war, dann hatte er kein Interesse: Dann war sie nicht erstklassig. Vielleicht war die Zeit gekommen, sein anfängliches Engagement noch einmal zu überdenken. Aber die Stimmen hatten am Morgen so zuversichtlich geklungen; es lag etwas in der Luft, und er konnte sich nicht erinnern, daß die Stimmen ihn je in die Irre geführt hatten.
    Und richtig: Der Abend kam, und als die Laternenanzünder ihre Runden machten, blieb sie weiter vor dem Tower stehen. Er konnte nicht wissen, daß auch die Indianerin Stimmen hörte, auf die sie sich verlassen konnte – die Stimmen ihrer Vorfahren –, und sie hatten ihr heute abend geraten, ausnahmsweise bis nach Einbruch der Dunkelheit zu warten. Als die Straßen und Gehwege sich leerten, nahm sie unter einer Gaslaterne in der Nähe des Eingangs zum Tower Aufstellung. Es wurde halb acht, dann acht. Die Zeit für den Green River war gekommen. Dante Scruggs beobachtete sie von der anderen Straßenseite her, ohne daß sie ihn sehen konnte, und seine erwartungsvolle Erregung nahm immer mehr zu. Er hatte beide Hände tief in die Hosentaschen gebohrt; die eine lag auf seinem Schwanz, die andere auf dem Messer.
    Und auch jetzt, ganz auf sein Wild konzentriert, merkte Dante nicht, daß er seinerseits beobachtet wurde; ein hochgewachsener blonder Mann in einem teuren Anzug war es diesmal, der in einer Kutsche auf der anderen Straßenseite saß und den Blick nicht von ihm wandte.
    Der Chor der Kirchenglocken in der Stadt verkündete, daß es neun Uhr war. Als der letzte Glockenschlag verhallte, schien die Frau eine Art Grenze erreicht zu haben; ihre Schultern sackten enttäuscht herab, und langsam ging sie davon. Dante straffte sich: Vielleicht war es soweit. Nur noch ein Zeichen …
    Ein Mann, der die Straße überquerte, ließ eine Zeitung fallen. Das war es: Die Stimmen hatten gesprochen.
    Dante schraubte den Deckel von einer Chloroformflasche in seiner Tasche, goß ein wenig auf sein Taschentuch, schraubte das Fläschchen wieder zu, stopfte die Hand mit dem Taschentuch in die Außentasche seiner Jacke und trat auf die Straße hinaus, um hinüberzugehen. Wenn sie den gewohnten Rückweg zu ihrer Pension nähme, dann würde die erste Biegung nach links sie in eine leere, von Lagerhäusern gesäumte Nebenstraße führen, wo in weiten Abständen nur wenige Gaslaternen standen, von denen eine gar nicht mehr funktionierte, nachdem Dante vor drei Tagen die Zuleitung abgeklemmt hatte; ein paar Schritt weiter kreuzte eine dunkle Gasse die Straße. Diese Stelle hatte er ausgesucht, um sie sich zu nehmen: unter der toten Laterne.
    Ja, sie bog dort ab. Er ging schneller, zwanzig Schritt hinter ihr; seine weichen Schuhsohlen machten kein Geräusch. Langsam holte er auf, gerade so schnell, daß er sie einholen würde, wenn sie in den dunklen Kreis käme – kein Spurt im letzten Augenblick, mit dem er sie warnen würde. Sie ging mit gesenktem Kopf und schlurfendem Schritt, ohne auf ihn zu achten. Ausgezeichnet. Elektrizität zischte in den Knochen und Sehnen von Dantes Händen; seine Fäuste ballten sich in den Taschen und wärmten sich für die bevorstehende Aufgabe. Noch zehn Schritte. Das waren die Augenblik-ke, für die er lebte: manchmal besser als die

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