Im Zeichen der Sechs
Wüstenboden erhob. Der Bau war noch immer bei weitem nicht fertig – selbst aus dieser Entfernung sahen Teile der Fassade allenfalls aus wie leere Hülsen.
Aber trotz allem verschlug es ihnen den Atem, im Herzen dieser Einöde ein so krasses, unpassendes Spektakel zu sehen, wie es hier himmelwärts ragte.
»Das haben Sie im Traum gesehen?« fragte Eileen, die sich neben Jacob auf den Kutschbock geschoben hatte.
»So ziemlich«, sagte Jacob. Der Mund wurde ihm trocken, und sein Herz pochte gegen die Rippen. Der Anblick schien ihn zu lähmen.
»Sie auch?« fragte Eileen.
Kanazuchi, der unter der schützenden Plane hervorspähte, nickte.
»Okay«, sagte Eileen langsam und versuchte, sich auf praktische Erfordernisse zu konzentrieren. »Was machen wir jetzt?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Jacob.
»Aber – aber Sie haben doch gesagt, Sie wüßten, was zu tun ist, wenn Sie es sehen.«
»Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit, meine Liebe, bitte. Es ist schon enervierend genug, wenn man so etwas überhaupt angesichtig wird. Ohne daß man sich überlegt, welche Implikationen … damit …« Er geriet ins Stocken. Sie sah, daß die Zügel in seinen Händen zitterten.
Du lieber Gott, ich habe einen schrecklichen Fehler begangen, erkannte Eileen. Ich habe angenommen, daß der arme Mann einen Plan hat, daß er uns in allem, was noch kommt, wird führen können, wenn sich als wahr erweist, was er geträumt hat. Aber er ist verängstigt und gebrechlich und weiß vielleicht auch nicht besser als ich, wie es von hier aus weitergehen soll.
»Natürlich, Jacob«, sagte sie. »Ist schließlich ein ziemlicher Schlag. Wir müssen einfach abwarten, was?«
Es schien, als könne er den Blick nicht vom Turm abwenden. Sie reichte ihm eine Wasserflasche und hielt die Zügel, während er trank.
»Ich bin so durstig«, sagte er leise und trank noch einmal.
Das Ächzen von Holz kam aus dem Wagen. Eileen schaute durch die Plane nach hinten. Kanazuchi hatte mit bloßen Händen eine Planke aus dem Boden gerissen und legte gerade sein großes Schwert in den Hohlraum unter den Bodenbrettern.
»Was machen Sie da?« fragte sie.
Er antwortete nicht. Sie sah, daß er wieder seine schwarzen, pyjamaähnlichen Kulikleider angezogen hatte; Jacobs Sachen hatte er ordentlich zusammengelegt. Kanazuchi drückte die Planke wieder an Ort und Stelle, verbarg das zweite, kleinere Schwert, das eigentlich kaum mehr als ein langes Messer war, in seinem Gürtel und kam dann zu ihnen nach vorn.
»Jacob«, sagte er leise.
Jacob drehte sich abrupt um. Schweiß rann ihm von der Stirn, Angst flackerte in seinem Blick, und sein Atem ging schnell und flach. Ihre Blicke trafen sich. Kanazuchi streckte die Hand aus und berührte Jacobs Stirn leicht mit den Fingerspitzen. Jacob schloß die Augen, und Kanazuchis Züge nahmen einen Ausdruck an, den Eileen in der kurzen Zeit, seit sie ihn kannte, noch nie bei ihm gesehen hatte – nicht weniger wild und wachsam als zuvor, doch nun offenbarte er eine tiefe Güte und unendliches Mitgefühl.
Wie ganz und gar unerwartet, dachte Eileen. Aber der Mann behauptet ja, er sei Priester, nicht wahr?
Jacob atmete langsamer und ruhiger, und die knotigen Furchen auf seiner Stirn glätteten sich. Die Berührung dauerte an; dann nahm Kanazuchi die Hand weg, und Jacob öffnete die Augen.
Sie blickten klar. Die Angst war verschwunden. »Vergiß es nicht«, sagte Kanazuchi. Jacob nickte. Kanazuchi wandte sich nach hinten; Eileen faßte kühn zu und hielt ihn am Arm fest.
»Was haben Sie da gerade getan?« fragte sie. Er betrachtete sie einen Moment lang. Sie spürte keine Gefahr, aber sie sah Tiefe in seinen Augen, die sie erkennen ließ, wieviel von sich dieser Mann verborgen hielt.
»Manchmal müssen wir einander erinnern«, sagte Kanazuchi, »wer wir sind.«
Er neigte leicht und respektvoll den Kopf. Eileen ließ ihn los. Kanazuchi bewegte sich wie ein Schatten, als er jetzt hinten aus dem Wagen glitt. Eileen sah ihm nach, wie er über ein Stück Wüstensand sprintete und hinter ein paar Felsen verschwand.
»Was hat er gerade mit Ihnen gemacht?« fragte sie Jacob. »Wenn ich es nicht besser wüßte – und ich weiß es besser –, würde ich sagen, es war so etwas wie … Handauflegen.« Er kletterte nach hinten. »Quatsch.«
»Aber, aber. Nur weil einer ein Schwert bei sich trägt, muß er noch kein schlechter Mensch sein.« »Er schlägt Leuten den Kopf ab.«
»Meine teure Dame, wir sollten die Werte
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