Im Zeichen der Sechs
bis zum Vollmond. Der erste kalte Hauch des Winters reiste mit dem Wind. Die Blätter verfärbten sich bereits. Am Himmel Gänse, die nach Süden flogen, fort vom Mutterland. Sie schaute von der Anhöhe zurück zu den baufälligen Häusern und Hütten der Reservation und fragte sich, wie viele aus ihrem Volk dahingerafft werden würden, wenn der Schnee käme. Wie viele würden übrigbleiben, um den Frühling zu begrüßen?
Sie zog sich die Decke fest um die Schultern. Hoffentlich würde die Streife sie nicht hier außerhalb der Mauern finden und sie zurück in die Reservation schicken. So viel Leid: abscheuliches Essen, Whiskey, die Hustenkrankheit. Die Repetiergewehre der Blauröcke. Sitting Bull ermordet von einem der Seinen. Die Weißen mit ihren verlogenen Verträgen rissen den Bauch der heiligen Black Hills auf, um ihr Gold herauszuholen …
Und da wagte sie nicht zu schlafen aus Angst vor einem Traum, in dem die Welt unterging? Wie konnte das schlimmer sein als das, was sie sah, wenn ihre Augen offen waren?
Sie wußte, daß die Welt der Dakota, ihre Art, für immer dahin war. Eine Reise in ihre Stadt, Chicago, hatte ihr das gezeigt. Die Weißen hatten eine neue Welt gebaut – mit Maschinen, geraden Linien, rechten Winkeln –, und wenn es diese Welt war, deren Ende sie in dem Traum sah, wieso sollte sie sich dann um ihren Schlaf bringen lassen? Wenn die Welt der Dakota, der ersten Menschen, innerhalb von einer Generation vernichtet werden konnte, dann hatte keine Welt Bestand, und ganz sicher keine, die auf dem Blut und den Knochen ihres Volkes erbaut war.
Dieser Traum war kein Fluch, mit dem sie die Weißen verwünschte, wenngleich auch davon viele über ihre Lippen gekommen waren. Sie hatten ihre Mutter und ihren Vater ermordet; aber dies war keine Rachevision. Dieser Traum hatte sich ganz ungebeten in ihren schlafenden Verstand geschlichen, und in den drei Monaten seitdem war er zu einer nächtlichen Marter geworden, von der sie keine Erlösung finden konnte; er trieb sie heraus auf das Plateau jenseits der Reservation, wo sie stand und ihren Großvater um eine Antwort bat, die immer noch nicht gekommen war, nachdem sie nun sieben Nächte darauf gewartet hatte.
Es war stolze, starke Medizin in ihrer Familie, und sie wußte, wenn eine Traum-Suche kam, mußte sie ihr folgen, wo immer sie hinführte. Die Vision enthielt keine Medizin, die sie kannte – ein dunkler Turm erhob sich über lebloser Wüste in einen brennenden Himmel, unterirdische Tunnel, aus dem Fels gehauen, und sechs Gestalten, die sich die Hände reichten. Aus einem Loch in der Erde ritt der Schwarze Krähen-Mann auf einem Feuerrad. Die Bilder erinnerten sie an das, was die Christen ›Apokalypse‹ nannten, aber wenn es dazu käme, hätte sie keine Angst zu sterben: Wenn das Kämpfen begann, und wenn sie, wie in ihrem Traum, gerufen wurde, dann fürchtete sie nur eines, nämlich zu scheitern.
Dreißig Sommer. Viele Freier, nie ein Ehemann. Es war schwer, einen Mann zu akzeptieren, der nie auf die Jagd geritten war, einen Nicht-Kämpfer, einen Feder-Halter, der den Weg der Dakota verlassen hatte. Aber die Weißen hatten alle Starken getötet, und der Whiskey hatte den Rest erledigt. So hatte sie gelernt, zu reiten und zu schießen und Häute zu machen, und sie hatte sich zum Krieger gemacht, am Körper wie im Geist. Sie ging zur weißen Schule, wie das Gesetz es befahl; sie lernte ihre Worte zu lesen und zu verstehen, wie sie lebten. Sie tauften sie – eines ihrer vielen seltsamen Rituale, und dabei hielten sie ihr Volk für primitiv –, und sie nannten sie ›Mary Williams‹.
Wenn es ihr paßte, hörte sie auf diesen Namen und trug ihre Kleider – diese Röcke, diese unbequemen geschnürten Mieder – und malte sich hübsch an mit ihren Farben, aber einen Liebhaber nahm sie nur, wenn sie einen wollte, und selbst dann hielt sie Abstand. Schon als Kind hatte sie gewußt, daß sie sich auf ein Leben der Macht vorbereitete. Als die Träume anfingen, wußte sie, daß ihre Zeit endlich gekommen war. Schluß mit den Vorbereitungen.
Eine Eule umkreiste den aufgehenden Mond. Großvater hatte sie gelehrt, was es mit dem Geist der Eule auf sich hatte: Er hatte so starke Medizin besessen. Mehr als irgendeiner der Dickbäuche, die in den Familien der Hunkpapa oder der Oglala noch am Leben waren. Was würde er ihr wohl raten, wenn er jetzt bei ihr wäre?
Die Eule landete weich auf einem Kiefernast über ihr, legte ihre Flügel zusammen und
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