Im Zeichen der Sechs
faltete die Hände hinter dem Rücken wie ein Lehrer. »Jetzt erzählen Sie uns doch von diesem Buch, an dem Ihre angeblichen Verfolger ein solches Interesse haben, und sagen Sie uns auch, wie es in Ihren Besitz gekommen ist.«
Stern nickte und fuhr sich mit den blassen, schmalen Fingern durch das widerspenstige Haar. »Es heißt Sefer ha-So-har, das Buch Sohar, und das bedeutet ›Buch des Glanzes‹.
Es ist eine Sammlung von Schriften des zwölften Jahrhunderts, deren Ursprung in Spanien liegt. Sie bilden die Basis dessen, was im Judaismus als Kabbala bekannt ist.«
»Die Tradition des jüdischen Mystizismus«, sagte Doyle. Eine Überprüfung seines Gedächtnisses ergab, daß handfeste Kenntnisse zu diesem Thema frustrierend spärlich waren.
»Ganz recht. Das Sohar war jahrhundertelang ein geheimes Dokument, das nur von einem exzentrischen Zweig rabbinischer Gelehrter studiert wurde.«
»Ja, aber was ist es denn?« fragte Innes ratlos wie ein verirrtes Kalb.
»Die Kabbala? Eigentlich schwer zu beschreiben. Ein Flickenteppich aus mittelalterlicher Philosophie und Folklore, aus Schriftauslegungen, Schöpfungslegenden, mystischer Theologie, Kosmogonie, Anthropologie, Seelenwanderung.«
»Oh«, sagte Innes und bereute seine Frage.
»Das meiste ist verfaßt in Form eines Dialogs zwischen einem legendären, vielleicht fiktiven Lehrer namens Rabbi Simeon bar Yochai und seinem Sohn und Schüler Eleazar. Die beiden hielten sich angeblich dreizehn Jahre lang in einer Höhle verborgen, um der Verfolgung durch den römischen Kaiser zu entgehen. Als der Kaiser starb und der Rabbi aus der Abgeschiedenheit hervorkam, war er so verstört ob des Mangels an Spiritualität, den er in seinem Volke gewahrte, daß er sich gleich wieder in die Höhle zurückzog und dort meditierte, um Anleitung zu finden. Nach einem Jahr hörte er eine Stimme, die ihm befahl, das gewöhnliche Volk seiner Wege ziehen zu lassen und nur diejenigen zu lehren, die dafür bereit seien. Das Sohar ist die Aufzeichnung dieser Lehren, aufgeschrieben von seinen Jüngern.«
»Ganz wie die sokratischen Dialoge Piatons, oder wie dieser … äh, wie heißt er gleich?« sagte Innes, um nicht völlig ignorant zu erscheinen; dennoch hatte er noch immer nur äußerst nebulöse Vorstellungen von dem, was der Bursche da redete.
»Aristoteles«, sagten Stern und Doyle gleichzeitig.
»Genau.«
»Sind diese Originalmanuskripte erhalten geblieben?« fragte Doyle.
»Vielleicht. Das Sohar wurde auf Aramäisch verfaßt; die Sprache, die im zweiten Jahrhundert in Palästina gesprochen wurde. Die Autorenschaft des Originaltextes ist nach wie vor umstritten, aber überwiegend schreibt man es einem obskuren Rabbi aus dem dreizehnten Jahrhundert zu, der in Spanien lebte: Moses de Leon. Man hat nur zwei erhaltene Manuskripte von de Leons Originalschriften gefunden; das eine heißt Tikkunei Sohar und ist ein kurzer Nachtrag, der einige Jahre später als das eigentliche Buch geschrieben wurde. Das Tikkunei wurde im vergangenen Jahr in Oxford von der Universität Chicago erworben und von einer Gruppe jüdisch-amerikanischer Gelehrter studiert – unter denen mein Vater, Rabbi Jacob Stern, wie Sie ganz richtig vermuteten, Mr. Doyle, zu den bedeutendsten zählt.
Nach langen Verhandlungen ist es meinem Partner und mir soeben gelungen, das älteste vollständige handschriftliche Manuskript des Buches Sohar als befristete Leihgabe zu beschaffen, das ›Gerona Sohar‹. Es datiert aus dem frühen vierzehnten Jahrhundert und wurde vor Jahren auf dem Gelände eines antiken Tempels in der Nähe von Gerona in Spanien entdeckt. Die Authentizität des Gerona Sohar ist Gegenstand einer ungeheuren Kontroverse unter Fachleuten; mein Vater und seine Kollegen hoffen, diese Fragen ein für allemal zu klären, wenn sie beide Bücher in ihren Besitz bekommen und sie Seite an Seite miteinander vergleichen können.«
»Gut, und was ist so Besonderes an diesem alten Bologna Sohar?« fragte Innes und unterdrückte ein Gähnen.
» Gerona. Um ehrlich zu sein, ich habe mich nie selbst damit beschäftigt. Ich bin Geschäftsmann; seltene Bücher sind mein Gewerbe, nicht meine Leidenschaft. Ich habe für derartige akademische Unternehmungen weder die nötige Ausbildung noch das Interesse. Aber mein Vater, der die Kabbala seit fast dreißig Jahren studiert, würde Ihnen erklären, er glaube, daß dieses Buch dem Menschen, sofern er es erfolgreich entschlüsselt, die Antwort auf das Mysterium der
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