Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
Vom Netzwerk:
über die Schlafenden hinweg; dabei achtete er darauf, nicht auf eine der vier knarrenden Dielen zu treten. Am Bett des Obmanns neben der Tür blieb er stehen. Mit der Spitze seines wakizushi -des langen Messers – fischte er behutsam den Zimmerschlüssel unter der Pritsche hervor. Er war mit einem Wildlederstreifen an einem Brettchen befestigt; mit einer knappen Drehung des Handgelenks schnitt er ihn ab.
    Einen Augenblick später stand er draußen im Gang; seine Augen hatten sich bereits an die Dunkelheit gewöhnt. Die Luft war beißend vom Rauch der Räucherstäbchen auf den Altären, auf denen sich immer noch Früchte und Münzen türmten. Kanazuchi untersuchte den Staub auf dem Boden; hier war niemand entlanggegangen, seit die Türen um Mitternacht, zwei Stunden zuvor, verschlossen worden Waren. Er glitt in die Mitte des Korridors, in die Nähe der Treppe, verschmolz mit den Schatten, blieb stehen und lauschte.
    Schlafende atmeten in den vier Zimmern auf dieser Etage, in den Zimmern darüber und darunter. Schaben raschelten in den Wänden. Er verlagerte die Wahrnehmung seiner ungewöhnlichen Sinne weiter nach außen, eine alte, vertraute Übung, in die er so mühelos einstieg, wie man ein oft getragenes Kleidungsstück anlegt.
    Draußen warf eine Straßenkatze einen Mülleimer um. Ratten stöberten umher. Eine Kutsche ratterte vorüber. Betrunkene lachten. Schrille Verhandlungen einer Prostituierten. Pferde rumorten, stampften mit den Hufen, schnaubten in den Stallungen nebenan. Schritte. Sie näherten sich.
    Er holte das Netz seiner Sinne ein und warf es im Erdgeschoß des Hauses aus.
    Ein Mann trat ein. Schwer. Groß, nach der Länge der Schritte zu urteilen. Lederstiefel, wie man sie im Westen trug. Ein Sack schleifte hinter ihm über den Boden. Ein Rasseln, Zischen wie von einer Schlange. Ein sanftes Fegen, das Klimpern von Münzen, die zusammenfallen. Metallisches Schlagen, das Klirren von blechernen Becken.
    Die Schlafenden erwachten in den unteren Stockwerken. Furchtsames Wispern. Ducken. Niemand, der sich von seiner Pritsche erhob.
    Schritte kamen die Treppe herauf. Erster Stock. Trommelschlag, der Beckenklang lauter jetzt: Zischen und Rasseln. Noch mehr Münzen eingesammelt: näherkommend.
    Entsetzen verbreitete sich im Haus. Gebetsgemurmel, panisch klappernde Perlenschnüre. Kanazuchi wandte seinen Geist ab von den schnatternden Bauern und auf die bleischweren Schritte, die da die Treppe heraufkamen.
    Der Dämon hatte den Treppenabsatz erreicht. Eine klobige, einschüchternde Gestalt. Drachenkopf, gefiederte Glieder, Raubvogelklauen, die ein Tambourin umklammerten und damit gegen die Hüften schlugen. Ein großer Jutesack schleifte hinterher, polterte die Stufen herauf.
    Als der Dämon im zweiten Stock angelangt war, fiel ihm eine Goldmünze vor die Füße. Er blieb stehen, schaute nach unten. Gold: Der Dämon griff danach. Ein Schatten bewegte sich. In der Sekunde vor dem Ende seines Bewußtseins registrierte der Verstand des Dämons Verwirrung und ein silbernes Blitzen, das sich auf ihn zu bewegte: Das Schwert schnitt so schnell, daß die Augen des Dämons immer noch Informationen an sein Gehirn sendeten – der Flur drehte sich unkontrollierbar, als der Kopf rückwärts die Treppe hinunterkullerte, weg von dem Körper, der noch dastand.
    Kanazuchi hatte den Schnitt schräg nach oben ausgeführt, damit der Körper des Dämons seine Kleider nicht mit Blut bespritzte. Er schob den Grasschneider in die Scheide und griff noch rechtzeitig zu, um den Körper lautlos zu Boden gleiten zu lassen, als die Arterien ihr Blut hervorzupumpen begannen. Leichtfüßig sprang er auf den Treppenabsatz hinunter und zog den Kopf des Dämons aus der billigen Drachenmaske aus Papier – Augen und Mund vor Überraschung weit aufgerissen: das flache, dumme Gesicht eines gewöhnlichen Ganoven.
    Kanazuchi zog die Flöte aus dem Gürtel der Leiche und lief zurück zu seinem Zimmer.
    Als der Obmann hörte, wie der Dämon draußen stehenblieb, griff er nach seinem Schlüssel, und als er merkte, daß der Schlüssel fort war, nach seinem Messer. Das Messer war auch nicht mehr da. In diesem Moment schwang die Tür auf, und er hörte das hohle, schilfdünne Pfeifen eines unheilvollen Windes. Die Männer im Zimmer kauerten sich unter ihre Decken.
    Der Drachenkopf aus buntem Papier spähte um die Ecke der offenen Tür. Ein Klauenfinger deutete auf den Obmann und winkte ihn heran.
    Was zum Teufel hatte er vor? fragte sich der Obmann. So

Weitere Kostenlose Bücher