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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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war die Sache nicht gedacht.
    Verärgert trat er hinaus in den Korridor. Der Wind verstummte jäh; die Tür schloß sich hinter ihm. Eine schweflige Weiße Rauchwolke quoll vor ihm im Gang auf, und in aufblitzendem Licht sah er Kopf und Körper seines Komplizen Charlie Lee hingestreckt auf dem blutnassen Boden. Bevor seine Beine losrennen konnten, umschloß eine eiserne Schraubzwinge seine Kehle und hob ihn vom Boden hoch. Die eingeschlossene Luft ließ seinen Brustkorb anschwellen wie einen Ballon.
    »Die Götter sind unzufrieden mit dir«, flüsterte eine rauhe Stimme am Ohr des Obmanns.
    Was für eine entsetzliche Stimme! Er strampelte hilflos mit den Beinen und rang nach Luft. Nichts rührte sich in seiner Brust. Sicher würde er jetzt sterben -
    »Sie haben mich beauftragt, dich mit dem Tod der tausend Qualen zu bestrafen.«
    Der Himmel sollte ihn schützen – ein echter Dämon! »Vielleicht aber verdienst du solche Gnade nicht. Vielleicht sollte ich dich einfach Stück für Stück auffressen.« Der Dämon schüttelte ihn wie ein wehrloses Kätzchen. »Dein Glück nur, daß ich gute Laune habe. Gib das Geld zurück, das du diesen Männern gestohlen hast, und ich werde dich vielleicht leben lassen.«
    Der Obmann versuchte, mit dem Kopf zu nicken: Alles, alles! Ein Rinnsal von Luft sickerte durch den Klauengriff des Dämons und hielt ihn am schmalen Rand des Bewußtseins fest.
    »Sag mir: Stiehlst du dieses Geld für dich?« Der Obmann schüttelte panisch den Kopf: Nein! »Wirklich nicht? Wer hat dir gesagt, daß du es stehlen sollst?«
    Der Griff lockerte sich so weit, daß er eine Antwort hervorkrächzen konnte: »Little Pete.«
    »Little Pete? Ist das ein Name für einen zivilisierten Menschen?«
    »Richtiger Name … Fung-Jing Toy Chinatown-Boß.«
    »Welchen Tong führt er?« »Sue Yop Tong.« »Und wo finde ich Little Pete?«
    »Im Haus der On-Leong-Gesellschaft«, krächzte der Obmann.
    »In der Kammer des Ruhigen Bewußtseins?«
    Der Obmann nickte wieder. Für einen chinesischen Dämon sprach dieser hier ziemlich gut Englisch, dachte er, bevor der Griff sich wie ein Eisenring um seinen Hals spannte. Wieder zuckte ein blendender Blitz durch die Luft. Der Obmann wurde ohnmächtig.
    Als er zu sich kam, wimmelten Männer aus allen Zimmern des Hauses um die enthaupteten Überreste eines wohlbekannten Gangsters aus der Nachbarschaft: Charlie Lee. Der Obmann rappelte sich auf und stimmte in das allgemeine Frohlocken darüber ein, daß die Schreckensherrschaft ein so zufriedenstellendes Ende genommen hatte: Es war überhaupt kein Dämon gewesen! Er hob den Beutesack des Erpressers auf und machte sich daran, die Münzen an die Hausbewohner zu verteilen: Welch ein Glücksfall! Für sich selbst nahm er nichts: Ein Sinneswandel war über den Obmann gekommen, eine Anwandlung von Großzügigkeit, die leicht noch zwei Tage würde anhalten können. Der Dämon hatte ihn am Leben gelassen!
    In seinem Überschwang nahm der Obmann keinerlei Notiz von denn schlanken, stillen Mann, der am Tag zuvor angekommen war; er war der letzte gewesen, der seine Pritsche verlassen hatte und zu den anderen in den Flur hinausgekommen war. Der Mann stand ein Stück abseits am äußeren Rand des Gedränges, das Bündel über der Schulter. Bereit, zu gehen.
    Fung-Jing Toy saugte geräuschvoll das Mark zwischen den Häuten des eingelegten Entenfußes heraus. Entenfüße waren eine Delikatesse, die sich seine Familie als Angehörige einer niederen Kaste nie hatte leisten können; daß er sie sich jeden Nachmittag servieren ließ, war eine der kultivierteren Methoden für Little Pete, sich an den Wohlstand zu erinnern, den ihm zwanzig Jahre der Knochenarbeit und der Selbstaufopferung eingebracht hatten. Wiewohl seinem Spitznamen entsprechend von bescheidener Statur und äußerlich milder Disposition, war Little Pete im Grunde seines Wesens ein Mann mit gefräßigem Appetit, und selten gehorchte er dem Impuls, diesen im Zaum zu halten.
    Er war der einzige Tong-Führer, mit dem »Blind Chris«
    Buckley und das korrupte weiße Politiker-Establishment von San Francisco unbefangen verhandeln konnten; all die übrigen chinesischen Bosse benahmen sich für ihren Geschmack viel zu hochnäsig. Little Pete war der einzige, der über die Beleidigungen lachte, die sie ihm so beiläufig ins Gesicht schleuderten; er war ein Clown, der sie mit seinen Verneigungen und Kratzfüßen auf eine Weise hofierte, die seinen minderwertigen rassischen Status

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