Im Zeichen der Sechs
kursierten Gerüchte, denen zufolge in der Nacht ein Dämon durch die Korridore streifte, auf der Jagd nach Seelen, die er verschlingen könnte. In letzter Zeit waren im Hof hinter dem Haus die Leichen von insgesamt drei Männern entdeckt worden, mit durchgeschnittener Kehle und herausgerissenem Herzen. Opfergaben, die sie auf Altären vor ihren Zimmertüren deponierten, die paar Münzen, die die Chinesen, mit vereinten Kräften zusammenkratzen konnten, schienen das Ungeheuer zu versöhnen. Jede Nacht hörten sie, wie es draußen herumstöberte, und jeden Morgen waren die Gaben verschwunden. Aber in der Woche, seit sie mit dem Opfern angefangen hatten, war niemand mehr ermordet worden.
Von den vierhundert Männern, die hier im Hause wohnten, hatte nur einer den Dämon gesehen und überlebt, um darüber zu berichten: der Obmann, ein pockennarbiger, dickhalsiger Rüpel, dem es oblag, die tägliche Miete und seit kurzem eben auch das Opfergeld einzusammeln. Er bezeugte, dieser Dämon habe den Kopf eines Drachens, tausend Augen und zehn gierige Mäuler, ein erstklassiger Dämon, einer von den zehntausend, die ihr komplexes Glaubenssystem bevölkerten. Er habe beobachtet, wie der Dämon mit seinen grausigen Klauen den Männern, die man im Hinterhof gefunden hatte, die Brust aufgerissen habe – so mühelos, wie man eine Orange schält.
Jetzt wurde jedes Zimmer abends vom Obmann abgeschlossen, aber selbst wenn es noch möglich gewesen wäre, hätte keiner dieser Männer sich nach Einbruch der Dunkelheit auf den Gang hinausgewagt, wodurch die persönliche Notdurft zu einem Anliegen wurde, dem sich an Ort und Stelle zu widmen war. Es gab Gelegenheiten, da Kanazuchi sich wünschte, seine Sinne wären nicht ebenso scharf wie die Klinge des Grasschneiders in seinem Bündel neben ihm; der reife Gestank dieser ungewaschenen Provinzler war eine solche Gelegenheit.
Dergestalt von Angst, Schmutz und Armut umgeben, wußte Kanazuchi, daß seit seiner Ankunft am Tag zuvor niemand Notiz von ihm genommen hatte; aber daß er sich des Nachts nicht frei bewegen sollte, war nicht hinzunehmen. Seufzen, gutturales Schnarchen, das Wimmern eines geplagten Träumenden, das alles untermalte die Dunkelheit ringsumher. Er wollte den Raum erst verlassen, wenn alle Bewohner fest schliefen, und der dünne Mann mit dem Fieber zwei Pritschen weiter wälzte sich immer noch hin und her.
Kanazuchi hatte in der vergangenen Nacht wieder seinen Traum gehabt, und ein Bild sprang mit handfester Klarheit daraus hervor, eine Spur, der nachzugehen sich lohnte:
Chinesische Gesichter bei der Arbeit in einem Tunnel.
Die ersten beiden Tage in Dai Fow – der Big City, dem Neuen Goldenen Berg, wie die Chinesen San Francisco nannten – hatten keinerlei Licht in dieses mysteriöse Bild gebracht. Niederes Volk wie diese unwissenden Slumbewohner war keine Hilfe. Er hatte erwogen, Bekanntschaft mit den Kaufleuten in der Umgebung zu pflegen, aber sie sprachen einen kultivierteren Dialekt als das gutturale Mandarin, mit dem er die Überfahrt gemeistert hatte; er würde noch eine Woche brauchen, ehe er ihn in all seinen Nuancen beherrschte, und sie waren notorisch verschlossen gegen jedermann, der nicht zu einer ihrer Bruderschaften,
den ›Tongs‹, gehörte. Die andere Möglichkeit war, aus dem Ghetto hinaus in die weißen Viertel der Stadt zu gehen, aber alle, mit denen er in Tangrenbu darüber gesprochen hatte, hatten ihn davor gewarnt. Eine Woge von antiasiatischer Wut hatte Amerika in den letzten Jahren erfaßt; die Verbrechen gegen asiatische Einwanderer in den Chinatowns überall an der Westküste waren stetig schlimmer geworden: Morde, Straßenschlachten, Lynchaktionen. Immer wenn die Weißen einen Sündenbock für ihr wirtschaftliches Mißgeschick brauchten, sprach die öffentliche Meinung mit Nachdruck von der ›gelben Gefahr‹, und unausweichlich folgten dann diese Akte rassistischer Barbarei. Was konnte man von einem so unzivilisierten Volk aber auch erwarten? Kanazuchi zögerte, die Weißenviertel zu betreten, da er befürchten mußte, angegriffen zu werden – jedoch nur, weil es unnötige Komplikationen nach sich ziehen würde, wenn er in der Öffentlichkeit einen Weißen umbrächte.
Eins nach dem andern also: Der direkte Weg zu den Erkenntnissen, die er suchte, lag vielleicht unmittelbar vor ihm.
Der Mann zwei Pritschen weiter war zur Ruhe gekommen; er atmete angestrengt, aber langsam und regelmäßig. Kanazuchi schulterte sein Bündel und stieg
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