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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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zurechtgehämmert; seine Lunge brannte, in seinen Ohren pfiff es, er hatte Hunger und Durst und mußte dringend seine Blase entleeren.
    Ich bin ein Wrack. Dem Himmel sei’s gedankt. Was für eine unbezahlbare Erinnerung daran, daß wir Geistgeschöpfe sind und daß der Schmerz unser einziger Lohn sein wird, wenn wir auf dem Leiblichen beharren. Andererseits, wenn jetzt vor mir ein heißes Bad und ein Teller Suppe erscheinen wollten, würde ich mich auch nicht beschweren.
    Vielleicht würde er im Zug schlafen können. Der Traum war immer intensiver geworden, je weiter er nach Süden gekommen war; und jedesmal, wenn er darin versank, traten weitere Details der eigentümlichen Landschaft klarer hervor. Auf der ganzen Reise von Chicago hatte Jacob sich mit körperlicher Willensanstrengung gezwungen, dabei weiterzuschlafen, nicht nur um des Ausruhens willen – obgleich er deshalb nicht weniger erschöpft war –, sondern um immer mehr von diesem Traum offenbart zu bekommen.
    So kam es, daß er jetzt im Schlaf das beunruhigende Gefühl eines hellwachen Bewußtseins hatte und ihm jederzeit völlig klar war, daß er sich in einem Traum bewegte. Auch wenn er den Gang der Ereignisse in diesem Traum nicht steuern konnte, hatte er doch gelernt, den Fokus seiner Aufmerksamkeit zu verlagern und mehr von dem zu sehen, was um ihn herum vorging. Der explizite Inhalt des Traums war, oberflächlich betrachtet, nicht so beängstigend, aber von seinen Rändern schlich eine Aura der Bedrohlichkeit heran, Licht und Klang und Farbe in so überwältigender Potenz, daß er jede Nacht schweißgebadet und mit donnerndem Herzschlag aufgewacht war, und seine wunden Augen hatten von unfreiwilligen Tränen gebrannt. Der verlorene Stamm.
    In dem Traum begegnete er einem Stamm von Menschen – in der Logik des Traums schien das ihr Wesen zu sein –, die sich, ganz in Weiß, auf einem offenen Platz versammelten und etwas anbeteten, das sich auf einer erhöhten Plattform befand und ungeheuer viel Licht verstrahlte … aber jedesmal blieb der Gegenstand ihrer Anbetung in frustrierender Weise gerade noch unkenntlich. Und andere inzwischen vertraute Bilder: Ein gewaltiger schwarzer Turm, der seinen Schatten über welligen weißen Sand warf. Ein unterirdischer Saal,
    eine Krypta oder ein in den Fels gehauener Tempel. Fünf Leute, verhüllt an Gesicht und Gestalt. Ein uraltes, in Leder gebundenes Buch, das auf einem silbernen Kasten lag. Ein Buch in hebräischer Sprache. Und nach seinen jungfräulichen Seiten griff eine Hand: Krallen, Schuppen.
    Und der Satz in seinem Kopf:
    Wir sind sechs.
    Vorläufig war das alles, woran er sich halten konnte.
    Jacob hatte keinen Plan.
    Sein Körper fühlte sich gebrechlich an, seine Haut kaum robust genug, um alle seine schmerzenden Einzelteile zusammenzuhalten, aber sein Kopf war immer noch klar, und seine entschlossene Zielstrebigkeit hatte mit jeder Meile, die er zurücklegte, an Kraft gewonnen. Wieso Phoenix? Was lenkte ihn in diese Richtung? Reiner Instinkt: Der Traum spielte in einer Wüste, und so bewegte er sich auf die größte Wüste zu, die man zu kennen schien – der Westen von Arizona, sagten die Leute –, und er würde Weiterreisen, bis er auf etwas stieße, das seiner Vision entsprach. Und dann … wer konnte das wissen? Zweifellos würde wieder etwas geschehen. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht würde er auch nur einen schönen Urlaub verleben; die Wüstenluft würde für seine Lunge Wunder wirken.
    »– haben eine ganze Woche in Minneapolis gespielt, jeden Abend vor vollem Haus. Man weiß gutes Theater in dieser Stadt zu schätzen; ein herzhafter, skandinavischer Menschenschlag, der daran gewöhnt ist, lange Zeit stillzusitzen – das macht der Winter, wissen Sie, der lange Winter, der sie so friedlich macht –, eine Erfahrung, die ich schon viele Male gemacht habe: ein höchst geduldiges und aufmerksames Publikum –«
    Während Rymer sich in seinem selbstversunkenen Monolog verlor, fand Jacob Gelegenheit, sich auszuruhen, und er fühlte, wie sein Herz wieder in einen gleichmäßigen Rhythmus verfiel. Er sah sich gezwungen, zuzugeben, daß er sich für einen Mann in einem derart elenden Zustand überraschend wohl fühlte. Nachdem er fünfzig Jahre in seiner Studierstube über den Büchern gehockt hatte, war es eine Offenbarung, auf diese spontane, ungezügelte Weise zu reisen, Sandwiches zu essen und die spektakuläre amerikanische Landschaft zu betrachten, die draußen vor den Fenstern der

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