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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Eisenbahn vorüberzog. Welche Aufmunterung! Felder und Flüsse, immergrüne Wälder, die Rocky Mountains, rot vom Sonnenuntergang hoch in der Ferne -nie zuvor war er in der Nähe derart exquisiter Naturschönheit gewesen. Die Welt schien von so gewaltiger Ausdehnung, daß ihm alle seine Versuche, sie philosophisch zu erfassen, lächerlich unangemessen vorkamen. In Anbetracht dieser Reise überkam ihn ein demütigendes Gefühl der Torheit, aber es war die gleiche Empfindung, die er auch dann regelmäßig verspürte, wenn er an einer Straßenecke stand oder auf dem Weg zum Metzger war. Ein Schamgefühl von allgemeiner Art ist unentrinnbarer Teil der conditio humana, hielt er sich vor. Kannst also genausogut Weiterreisen.
    Und wenn sich herausstellte, daß dieser ganze Mischmasch irgendeinem verrückten Defekt in seinem Kopf entstammte und ihn am Ende dieses Weges keine entsetzliche Katastrophe erwartete – nun, dann konnte man das ja wohl als gute Nachricht betrachten, nicht wahr? Diese spornstreichs angetretene Zugreise in den Wilden Westen würde als berühmtestes Beispiel für Jacob Sterns bereits umfangreich nachgewiesene Exzentrik in die Mythologie seines Freundeskreises eingehen.
    Sicher war nur eins: Innerhalb der nächsten Stunde würde der Schaffner ihnen mit seiner Pfeife das Signal zum Einsteigen in den Zug nach Phoenix geben. Dieser Schauspieler würde ohne Aufforderung weiter über sich selbst reden, bis der Zug ankam oder die Welt unterging, je nachdem, was zuerst geschah. Und die Zeit bis dahin in Gesellschaft einer so schönen Frau zu verbringen, wie sie ihm hier gegenübersaß, das wäre gar kein so schlechtes Schicksal.
    Vielleicht würde sie sich neben ihn setzen. Er konnte sich Schlimmeres vorstellen.
    »Deerstalker-Mützen, wie Holmes sie trägt, sind jetzt große Mode.«
    »Was Sie nicht sagen.«
    »Wie ich höre, gibt es sogar einen Run auf Lupen und Meerschaumpfeifen.«
    »Im Ernst? Unglaublich.«
    »Ich war vor ein paar Wochen auf einer Kostümparty im Hause Vanderbilt, und ich möchte die Behauptung wagen, nicht weniger als jeder dritte dort erschien verkleidet als Mr. Sherlock Holmes«, sagte Major Pepperman. Er nippte an dem Champagner, den das Hotel gratis serviert hatte, und klimperte beiläufig auf dem Flügel, der vor dem großen Fenster mit Blick auf die Fifth Avenue stand; draußen erwachten die Lichter funkelnd zum Leben, während die Nacht sich allmählich über die Stadt senkte.
    »Das ist außerordentlich«, sagte Doyle.
    Das ist außerordentlich erschreckend, dachte er.
    Gemütlich im Salon seiner Suite im Waldorf sitzend – in einem Zimmer, das um ein Beträchtliches größer war als jede Wohnung, die er bis vor kurzem bewohnt hatte –, pflückte Doyle Trauben aus einer Skulptur aus Früchten, die das Hotel gratis serviert hatte, so groß wie Rodins Balzac. Dabei blätterte er durch einen Stapel Tageszeitungen; mit einer Ausnahme hatten sämtliche Blätter mit der Nachricht von seiner Ankunft aufgemacht. Aber im Herald fand sich kein Artikel unter dem Namen Ira Pinkus, noch in einer der anderen Zeitungen etwas unter einem seiner diversen Pseudonyme, und in der existierenden Berichterstattung fand sich auch nicht der entfernteste Hinweis auf irgendwelche verbrecherischen Ereignisse an Bord der Elbe. Was immer Jack getan haben mochte, um Pinkus unter Druck zu setzen, es hatte sein Gekläff verstummen lassen, erkannte Doyle und gestattete sich einen heimlichen Seufzer der Erleichterung.
    »Vielleicht war dieser merkwürdige Kerl, den wir im Foyer gesehen haben, ebenfalls auf Ihrer Party«, meinte er.
    Ein wunderlicher, birnenförmiger Mann in voller Holmes-Staffage hatte mit zwei gleichermaßen suspekten Komplizen am Eingang des Waldorf auf der Lauer gelegen und war Doyle bei der Ankunft in den Weg gesprungen. »Conan Doyle, wie wir annehmen?« Und mit feierlich versteinerter Miene hatten sie ihm eine gravierte Plakette überreicht: »Zum Gedenken an Mr. Arthur Conan Doyles ersten Besuch in Amerika in Namen der Offiziellen New Yorker Ortsgruppe der Baker-Street-Hilfstruppen« – eine Organisation, von der Doyle noch nie gehört hatte und die laut Pepperman im Zuge der Sherlock-Holmes-Begeisterung wie ein Pilz aus dem Boden geschossen war.
    Dieser Holmes-Imitator hatte sodann darauf bestanden, einen weitschweifigen, schlecht auswendig gelernten Monolog zum Vortrag zu bringen; Doyle konnte sich nicht erinnern, je eine erbärmlichere Nachahmung eines englischen Akzents gehört zu

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