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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Wunschgedanken nachgehen konnte.
    Eine hierarchisch geordnete Gruppe von Politikern drückte Doyle eine Schriftrolle mit der amtlichen Willkommensbekundung sowie einen schweren, mit Bändern geschmückten Messinggegenstand in die Hand, bei dem es sich vermutlich um einen Stadtschlüssel handelte, der aber als Waffe wohl viel besser zu gebrauchen wäre. Bevor man weitere Geschäfte in Anschlag bringen oder Doyle sich etwa genötigt sehen konnte, die Horden tatsächlich mit seinem Schlüssel in die Flucht zu schlagen, führte Pepperman ihn an den Absperrböcken vorbei und durch den soliden Menschenblock hinaus auf die Straße, wo eine Flotte von Kutschen wartete.
    Für den Fall, daß man ihn auffordern würde, eine improvisierte Antwortrede zu halten – man hatte ihn warnend darauf vorbereitet, daß die Amerikaner nichts so sehr liebten, wie Reden zu hören und zu halten –, bemühte Doyle sich, eine Kette von brauchbaren Gedanken zusammenzufügen, die er diesen Leuten gegenüber zum Ausdruck bringen könnte. Aber als er neben Pepperman auf das Trittbrett ihrer Kutsche stieg, zeigte die Menschenmenge kein erkennbares Interesse an irgend etwas anderem als daran, sich mehr oder minder in seine Richtung die Lunge aus dem Hals zu schreien. Doyle winkte ihnen zu; dann winkte er noch ein bißchen mehr und folgte schließlich Peppermans Beispiel, indem er seinen Hut in die Luft schleuderte, ein anscheinend eigens für amerikanische Zuschauer erdachtes Signal, sich ab sofort aufzuführen, als hätten sie vollends den Verstand verloren.
    Sein Blick wanderte über die Menge hinaus, während die Hysterie verebbte, und dort hinten sah er Lionel Stern, der mit ernster Miene aus dem Zollgebäude kam. Ein schlichter Sarg mit dem toten Rupert Selig wurde auf einen Leichenwagen geladen. Daneben stand, den Vorgang beaufsichtigend, immer noch in seiner Priestersoutane, Jack Sparks.
    Na gut, dachte Doyle, als seine Kutsche davonfuhr; einstweilen gibt es keinen Grund, sich wegen Sterns Sicherheit Sorgen zu machen. Wenn dieses Scharmützel sich als typisches Beispiel für die Behandlung erweisen sollte, die ich vom amerikanischen Durchschnittspublikum zu erwarten habe, dann habe ich wohl eher für meine eigene Haut zu fürchten.
    Als die zwei Dutzend New Yorker Polizisten einige Zeit später die Elbe verließen, nachdem die gründliche Durchsuchung des Schiffes nach dem letzten Entkommenen ergebnislos geblieben war, nahm keiner von ihnen besondere Notiz von einem großen, blonden, gutaussehenden Officer in ihrer Mitte, der die Dienstmarke Nummer 473 trug. Niemand konnte sich nachher erinnern, mit ihm gesprochen zu haben, und die meisten merkten überhaupt erst drei Stunden nach der Rückkehr aufs Revier, daß Nummer 473 fehlte.
    Noch drei Tage sollten vergehen, ehe sie in einem Jutesack die nackte Leiche des früheren Trägers dieser Dienstmarke entdeckten, eines Streifenpolizisten namens Malloy – im Fleischkühlraum der Elbe.
     
     
    DENVER, COLORADO
    Wer ist wohl dieser merkwürdige alte Mann? dachte Eileen. Was für ein Anblick: der komische runde Hut, der bodenlange, pelzverbrämte schwarze Mantel, das Band um seinen Leib, der seltsam formelle Schnitt seines Kragens mit der Krawatte. Dünn wie eine Nähnadel, kaum kräftig genug, um diesen Koffer zu heben. Aber was für ein reizendes Lächeln er hat, wenn er so mit den schwarzen Gepäckträgern redet und seinen Hut hebt, um ihnen zu danken. Sie haben hier herüber gezeigt; er muß sie nach dem Weg gefragt haben. Ist bestimmt nicht leicht, in diesem Alter auf Reisen zu gehen – armer Kerl, das Herz geht einem auf. Er sieht so verletzlich aus, und so fehl am Platze; alles starrt ihn an. Aber die Aufmerksamkeit scheint ihn nicht zu stören. Scheint sie gar nicht zu bemerken. Er sieht aus wie jemand … wer ist es noch gleich? Jemand wirklich Bekanntes. O Gott, das ist es – Abraham Lincoln. Obwohl der Bart viel länger ist, und sein Haar ist grau. Aber er hat die gleichen Augen, die gleichen traurigen Dackelaugen.
    »Hören die Wunder denn nimmer auf?« sagte Bendigo Rymer, gab ihr einen Rippenstoß und deutete mit mächtigem Kopfnicken auf den herankommenden Mann. »Ein Hebräer mitten auf dem Bahnhof von Denver.«
    »Er sieht nett aus«, sagte Eileen, während sie ihre Zigarette zu Ende drehte und an der Unterseite der Hartholzbank ein Streichholz anriß. »Wie Abraham Lincoln.«
    »Bei den Sternen meines Himmels«, sagte Rymer, »das stimmt. Stell dir vor: Lincoln als Shylock.

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