Im Zeichen der Wikinger
ihr in die Nase, und sie musste sich mühsam beherrschen, um den Mund nicht aufzureißen und Atem zu holen.
Tief tauchte sie inmitten einer Wolke aufkochender Blasen ins Meer ein, das über ihrem Kopf zusammenschlug. Als sie allmählich langsamer sank, blickte sie nach oben und sah die Lichter der beiden Schiffe, die sich über ihr spiegelten. Sie stieß sich nach oben, unterstützt von ihrer Schwimmweste, schnappte ein paarmal nach Luft, als sie auftauchte, suchte nach ihrem Vater und sah ihn rund zehn Meter vor dem schwarz versengten Rumpf des Kreuzfahrtschiffs reglos im Wasser treiben.
Im nächsten Moment wurde er von einer Woge erfasst, und sie verlor ihn aus den Augen. Dann wurde auch sie von einem Wellenkamm emporgetragen, und sie entdeckte ihn wieder, keine fünf Meter von ihr entfernt. Sie kraulte zu ihm, fasste ihn um die Schulter und zog seinen Kopf zurück. »Papa!«, rief sie.
Egan schlug mühsam die Augen auf und starrte sie an. Er verzog das Gesicht, als leide er unter heftigen Schmerzen.
»Kelly, du musst dich selbst retten«, stieß er stockend hervor.
»Ich schaffe es nicht.«
»Halt durch, Papa«, erwiderte sie. »Wir werden gleich von einem Boot aufgelesen.«
Er schob ihr den Koffer zu, den er nach wie vor eisern festhielt.
»Er ist mir beim Aufprall aufs Wasser unter den Rücken geraten. Ich glaube, ich habe mir das Kreuz gebrochen. Ich bin gelähmt, ich kann nicht mehr schwimmen.«
Ein bäuchlings im Wasser liegender Leichnam wurde gegen Kelly getrieben, die einen kurzen Würgereiz unterdrücken musste, als sie ihn beiseite schob. »Ich halte dich fest, Papa.
Ich lass dich nicht los. Wir können uns an deinen Koffer klammern.«
»Nimm ihn«, murmelte er und versuchte, ihr den Koffer aufzudrängen. »Bewahre ihn gut auf, bis der rechte Zeitpunkt gekommen ist.«
»Ich begreife gar nichts.«
»Du wirst es verstehen …« Er brachte kaum noch ein Wort heraus. Dann verzog er das Gesicht, als ob ihn Schmerzen peinigten, und ließ den Kopf sinken.
Kelly erschrak angesichts der Mutlosigkeit ihres Vaters, bis sie begriff, dass er vor ihren Augen starb. Egan wiederum wusste, dass er im Sterben lag. Aber er hatte keine Angst vor dem Tod. Er ergab sich in sein Schicksal. Auch um seine Tochter machte er sich keine Sorgen – sie würde durchkommen. Er bedauerte nur, dass er jetzt nicht mehr erfahren würde, ob die Erfindung, die er zu Papier gebracht hatte, auch in der Praxis funktionierte. Er blickte in Kellys blaue Augen und lächelte matt.
»Deine Mutter wartet auf mich«, flüsterte er.
Verzweifelt sah sich Kelly nach einem Rettungsboot um. Das Nächste war keine fünfzig Meter weit weg. Sie ließ ihren Vater los, schwamm ein paar Meter und winkte wie wild. »Hierher! Kommt hierher!«, rief sie.
Eine Frau, die offenbar vom Rauch benommen war und kraftlos zwischen den Wellen trieb, wies einen Seemann auf sie hin, als sie ins Boot gezogen wurde, doch die Rettungsmannschaften waren mit so vielen anderen beschäftigt, dass sie Kelly nicht sahen. Sie wälzte sich auf den Rücken und kraulte zu ihrem Vater zurück. Doch er war nirgendwo zu sehen – nur der Lederkoffer trieb noch auf dem Wasser.
Sie hielt sich daran fest und rief nach ihrem Vater, aber im gleichen Moment sprang ein Teenager vom Oberdeck. Er verfehlte sie um Haaresbreite, als er im Wasser landete, traf sie aber mit dem Knie am Hinterkopf. Ihr wurde schwarz vor Augen.
4
Anfangs konnten die Besatzung und die Wissenschaftler auf der
Deep Encounter
den immer zahlreicher an Bord strömenden Menschen noch helfen, doch als immer mehr kamen, waren die einundfünfzig Männer und acht Frauen schlichtweg überfordert.
Doch trotz aller Ohnmacht und Verzweiflung angesichts der vielen Toten und Sterbenden, die im Wasser trieben, ließen die Rettungsmannschaften nicht locker. Etliche Meeresforscher und Techniker schlangen sich kurzerhand Leinen um den Leib, sprangen ungeachtet aller Gefahren ins Wasser, ergriffen den nächstbesten Schiffbrüchigen und ließen sich von ihren Bordkameraden wieder auf die
Deep Encounter
ziehen. Ihr Einsatz, durch den zahllose Menschenleben gerettet wurden, sollte in die Annalen der Seefahrtsgeschichte eingehen.
Unentwegt zogen die Bootsmannschaften Menschen aus dem Wasser, doch immer mehr stürzten sich in die See. Binnen kürzester Zeit war das Meer unter dem Heck voller schreiender Männer und Frauen, die die Hände nach den Booten ausstreckten, Angst hatten, man könnte sie übersehen.
Mittlerweile hatte
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