Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
lebten in einer Arbeiterwohnung im Pekinger Di’Anmen-Bezirk nahe dem Jingshan-(Kohlenhügel-) Park. Und es konnte nicht ausbleiben, dass Lien-Hua wieder schwanger wurde.
Damit geriet sie in Widerspruch zur herrschenden Politik der Bevölkerungskontrolle, wonach Eheleute nur ein einziges Kind haben konnten. Eine zweite Schwangerschaft bedurfte einer Sondergenehmigung durch den Staat. Die wurde auch in der Regel erteilt, wenn das erste Kind gestorben war, aber nur solchen Eltern, die sich politisch wohlanständig verhielten. Wer die Erlaubnis nicht erhielt, war gezwungen, die Schwangerschaft abzubrechen. Einziges Entgegenkommen seitens der Obrigkeit: Die Kosten für den in einem Krankenhaus vorgenommenen Abbruch übernahm die öffentliche Hand.
Für die kommunistische Regierung war Christentum gleichbedeutend mit politischer Unzuverlässigkeit, und es war nicht verwunderlich, dass das Ministerium für Staatssicherheit Spitzel in die Versammlungen von Pfarrer Yu schickte. Sie – es waren insgesamt drei, weil einer oder zwei womöglich selbst korrumpiert und unzuverlässig werden mochten – hatten die Namen der Yangs auf eine Schwarzliste politischer Abweichler gesetzt. Aus diesem Grund erhielt Frau Yang Lien-Hua, nachdem sie ihre Schwangerschaft pflichtgemäß angezeigt hatte, einen Brief, in dem sie dazu aufgefordert wurde, sich zwecks therapeutischer Abtreibung im Longfu-Krankenhaus an der Meishuguan-Straße einzufinden.
Damit war Lien-Hua nicht einverstanden. Ihr Name bedeutete ›Lotusblume‹, doch sie war aus härterem Stoff gemacht. Sie schrieb der zuständigen Behörde einen Brief und gab darin vor, eine Fehlgeburt erlitten zu haben. Der allgemeinen Trägheit von Behörden war zu verdanken, dass diese Behauptung nie überprüft wurde.
Für die Lotusblume begannen sechs Monate wachsender Anspannung. Sie musste auf ärztliche Versorgung verzichten und konnte nicht einmal einen jener ›Barfußmediziner‹ aufsuchen, die eine Generation zuvor von der Volksrepublik zur großen Bewunderung aller Linken dieser Welt als Institution eingesetzt worden waren. Doch Lien-Hua war gesund und kräftig, und außerdem hatte die Natur den menschlichen Körper zur Hervorbringung lebenstüchtiger Nachkommen befähigt, lange bevor Geburtshelfer auf den Plan traten. Der anschwellende Bauch ließ sich zudem unter der ohnehin schlecht sitzenden Kleidung geheim halten. Ihre Furcht war dagegen schwerer zu verbergen, am wenigstens vor sich selbst. Sie trug ein Kind im Leib und wollte es zur Welt bringen, wollte unbedingt noch einmal die Chance haben, Mutter zu sein. Sie wollte ihr Kind an der Brust saugen spüren und es lieben und verwöhnen, ihm zusehen, wie es krabbelte, sich aufrichtete, zu sprechen anfing, größer wurde – über das Alter von vier Jahren hinaus –, in die Schule ging, lernte und sich zu einem guten erwachsenen Menschen entwickelte, auf den sie stolz sein konnte.
Das Problem war die Politik. Der Staat setzte seinen Willen ohne Nachsicht durch. Sie wusste, dass ihrem Kind eine mit Formaldehyd gefüllte Injektionsnadel drohte, noch ehe es zur Welt gekommen war. Das war in China die Praxis. Die Yangs sahen darin vorsätzlichen, kaltblütigen Mord und waren entschlossen, nicht auch noch ihr zweites Kind zu verlieren, das, wie Pfarrer Yu meinte, ein Geschenk Gottes sei.
Und es gab eine Chance. Wenn Frau Yang das Kind ohne fremde Hilfe in ihrer Wohnung zur Welt brächte, und wenn es seine ersten Atemzüge getan hätte, würde ihm der Staat nichts mehr anhaben können. Vor dem Mord an einem atmenden Säugling schreckte auch die Regierung zurück. Vor seinem ersten Atemzug allerdings war ein Neugeborenes nicht viel mehr als ein Knäuel aus Gewebe. Es machten sogar Gerüchte die Runde, wonach ein schwunghafter Handel mit den Organen abgetöteter Föten betrieben wurde.
Dem Plan der Yangs nach sollte das Kind zu Hause geboren werden. Es würde dann den Behörden gewissermaßen als vollendete Tatsache gemeldet und anschließend von Pfarrer Yu getauft werden. Um die Kraft dafür aufzubringen, achtete Frau Yang sehr genau auf ihre Gesundheit, bewegte sich viel, aß vernünftig und hielt sich an das, was in den einschlägigen Schwangerschaftsratgebern empfohlen wurde. Für den Fall, dass Komplikationen auftauchten, wollten die Yangs ihren Pfarrer um Hilfe bitten. Ohne diesen Plan hätte Lien-Hua den Stress, den diese Situation ihr abverlangte, gewiss nicht ausgehalten.
»Nun?«, fragte Ryan.
»Rutledge hat
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