Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
versuchte ihr Bestes, trotz der Schmerzen zu beten. Sie verlangte sich das Äußerste ab, um sich zu konzentrieren und Gott in dieser schweren Zeit des Schmerzes, der Prüfung und der Angst um Gnade und Hilfe anzuflehen. Doch alles, was sie um sich herum sah, gab ihr nur noch mehr Anlass zur Furcht. Auf dem Gesicht ihres Vorarbeiters entdeckte sie keine Hilfsbereitschaft. Dann hörte sie rasche Schritte nahen. Es war Quon, der ihr zu Hilfe kam, doch bevor er sie erreichte, fing ihn der Vorarbeiter ab.
»Was geht hier vor sich?«, wollte der Mann mit der ganzen Unnachsichtigkeit minimaler Machtbefugnis wissen. »Kriegt Ihre Frau etwa hier ein Kind? Ein nicht genehmigtes Kind? Ju hai «, zischte er verächtlich. Schlampe!
Quon wollte das Baby genauso wie seine Frau. Er hatte ihr von seinen eigenen Ängsten nur deshalb nichts gesagt, weil er dachte, das wäre unmännlich. Auch er hatte die ganze Zeit unter extremer Anspannung gestanden, und nun brachte die letzte Beschimpfung des Vorarbeiters das Fass zum Überlaufen. In Erinnerung an seine Militärausbildung holte er zu einem Faustschlag aus, dem er seinerseits eine wüste Beschimpfung folgen ließ:
»Pok gai !« Wörtlich hieß das: Fall auf der Straße zu Boden , aber in diesem Zusammenhang sollte es wohl eher bedeuten: Geh mir gefälligst aus dem Weg! Der Vorarbeiter schlug sich den Kopf auf, als er zu Boden ging, und es verschaffte Quon eine gewisse Genugtuung, die Beleidigung seiner Frau durch eine Verletzung gesühnt zu sehen. Aber er hatte Wichtigeres zu tun.
Er half Lien-Hua auf die Beine und führte sie, so gut es ging, nach draußen zu ihren Fahrrädern. Aber was nun? Wie seine Frau hatte Quon gehofft, die Wehen würden zu Hause einsetzen, wo er sie schlimmstenfalls hätte krank melden können. Aber nachdem der Geburtsvorgang einmal eingesetzt hatte, konnte er ihn ebenso wenig aufhalten, wie er die Welt daran hindern konnte, sich um ihre Achse zu drehen. Er hatte nicht einmal die Zeit oder die Energie, das Schicksal zu verfluchen. Er musste sich mit der Realität auseinandersetzen, wie sie auf ihn zukam, nämlich Sekunde für Sekunde, und er musste seiner geliebten Frau helfen, so gut er konnte.
»Sie haben in Amerika studiert?«, fragte Wise vor laufender Kamera.
»Ja«, antwortete Yu, der eine Tasse Tee vor sich stehen hatte. »An der Oral Roberts University in Oklahoma. Nachdem ich zuerst einen Abschluss in Elektrotechnik gemacht hatte, habe ich noch Theologie studiert und wurde ordiniert.«
»Wie ich sehe, sind Sie verheiratet.« Der Journalist deutete auf ein Bild an der Wand.
»Meine Frau ist in Taiwan, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern«, erklärte Yu Fa An.
»Und wie haben Sie sich kennen gelernt?«, fragte Wise. Damit meinte er Yu und den Kardinal.
»Das war Fa Ans Verdienst«, erklärte DiMilo. »Er kam zu uns, um einen Neuling in derselben – in derselben Branche zu begrüßen, wie man es vielleicht nennen könnte.« Der Kardinal war versucht hinzuzufügen, dass sie gemeinsam etwas getrunken hatten, tat es dann aber doch nicht, um den Mann vor den anderen Baptisten, von denen viele jeden Alkoholgenuss streng verwarfen, nicht bloßzustellen. »Wie Sie sich vermutlich denken können, gibt es in Peking nicht sehr viele Christen, weshalb die wenigen umso fester zusammenhalten.«
»Finden Sie es nicht eigenartig, dass sich ein Katholik und ein Baptist so gut vertragen?«
»Überhaupt nicht«, antwortete Yu sofort. »Was sollte daran eigenartig sein? Sind wir denn keine Brüder im Glauben?« DiMilo nickte angesichts dieser perfekten, wenn auch unerwarteten Antwort.
»Und wie denkt Ihre Gemeinde darüber?«, fragte Wise den chinesischen Geistlichen als Nächstes.
Auf dem Parkplatz der Fabrik standen Unmengen von Fahrrädern, denn die wenigsten chinesischen Arbeiter besaßen ein Auto. Zum Glück war jedoch gerade jemand in der Nähe, der Zugang zu einem fahrbaren Untersatz hatte, als Quon seine Frau nach draußen führte. Ein Sicherheitsbeamter der Firma fuhr in einem dreirädrigen Gefährt das Fabrikgelände ab. Dieses motorisierte Dreirad war für den Mann ein wichtigeres Statussymbol als seine Uniform und sein Abzeichen. Wie Quon ein ehemaliger Feldwebel der Volksbefreiungsarmee, hatte er das damit einhergehende Überlegenheitsgefühl nie ganz abgelegt. Es äußerte sich unter anderem auch darin, wie er andere ansprach.
»Halt!«, rief er vom Fahrersitz seines Gefährts aus. »Was ist hier los?«
Quon drehte sich um.
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