Im Zeichen des Drachen: Thriller (German Edition)
Bauch deutlich zu sehen. Ebenso unschwer war zu erkennen, dass Lien-Hua heftige Wehen hatte und dass es sich hier nicht um einen Notfall handelte. Sie gehörte in die große Entbindungsstation im ersten Stock. Die Ärztin winkte zwei Pfleger heran und sagte ihnen, wohin sie die Patientin bringen sollten. Dann ging sie zum Telefon, um oben anzurufen und Bescheid zu sagen, dass eine Entbindung unterwegs war. Nach getaner ›Arbeit‹ kehrte die Ärztin ins Ärztezimmer zurück, um eine Zigarette zu rauchen.
»Genosse Yang?«
»Ja?« Der besorgte Ehemann saß immer noch im Wartezimmer fest, wo er von den Verwaltungsangestellten gewissermaßen gefangengehalten wurde.
»Ihre Frau wird gerade in die Entbindungsstation gebracht«, teilte ihm ein neu hinzugekommener Mann mit. »Da gibt es allerdings ein Problem.«
»Was für eins?«, fragte Quon, obwohl er die Antwort kannte. Angesichts der bürokratischen Sachlage konnte er nur noch auf ein Wunder hoffen.
»In unseren Unterlagen steht nichts über die Schwangerschaft Ihrer Frau. Sie gehören jedoch in unseren Zuständigkeitsbereich. Es ist doch richtig, dass Sie in Nummer zweiundsiebzig im Großer-Langer-Marsch-Wohnblock wohnen?«
»Ja, d… dort leben wir«, stotterte Quon. Er suchte fieberhaft nach einem Ausweg aus dieser Falle, konnte aber nirgendwo ein Schlupfloch erkennen.
»Aha.« Der Mann nickte. »Verstehe. Danke. Dann muss ich kurz telefonieren.«
Es war die Art, wie er das sagte, die Quon Angst machte: Ach ja, dann werde ich mal dafür sorgen, dass dieses Gesindel ordnungsgemäß beseitigt wird. Ach ja, das Glas ist zerbrochen, und ich versuche jemanden zu finden, der es repariert. Ach ja, eine unerlaubte Schwangerschaft, ich rufe mal oben an, damit sie das Baby töten, wenn es kommt.
Auf der Entbindungsstation konnte Lien-Hua den Unterschied in ihren Augen ganz deutlich sehen. Vor Ju-Longs Geburt hatten Freude und gespannte Erwartung aus den Augen der Schwestern in der Entbindungsstation gesprochen. Man hatte über ihren Gesichtsmasken die Lachfältchen um ihre Augen sehen können … Diesmal war es anders. Jemand war ins Wehenzimmer Nr. 3 gekommen und hatte der Schwester etwas ins Ohr geflüstert, worauf deren Kopf zu Lien-Hua herumgefahren war und das Mitgefühl in ihren Augen etwas anderem Platz gemacht hatte. Auch wenn Lien-Hua nicht wusste, was dieses andere war, wusste sie doch, was es bedeutete. Es war vielleicht nichts, was die Schwester gern tat, aber weil sie es musste, würde sie es dennoch ausführen. Lien-Hua spürte die nächsten Wehen kommen. Das Baby in ihrem Uterus wollte geboren werden. Es wusste nicht, dass es seinem eigenen – staatlich geforderten – Untergang entgegendrängte. Aber das Krankenhauspersonal wusste es. Das erste Mal, bei Ju-Long, waren sie in der Nähe geblieben, nicht direkt an ihrer Seite, aber doch nahe genug, um alles im Auge behalten zu können und dafür zu sorgen, dass nichts schief ging. Jetzt zogen sie sich zurück, denn sie wollten nicht die Laute einer Mutter hören, die sich abmühte, den Tod zu gebären.
Für Yang Quon im Erdgeschoss war der Fall genauso klar. Plötzlich kamen die Erinnerungen an die Geburt seines Sohnes Ju-Long zurück, an das Gefühl, seinen winzigen Körper in seinen Armen zu halten, an die schwachen Laute, die er von sich gegeben hatte, an das erste Lächeln, wie er sich zum ersten Mal aufsetzte, krabbelte, die ersten Schritte in ihrer kleinen Wohnung machte, an die ersten Wörter, die er gesprochen hatte … Aber jetzt war ihr kleiner Großer Drache tot, zermalmt von den Rädern eines Busses, und sie würden ihn nie mehr wieder sehen. Ein gleichgültiges Schicksal hatte das Kind seinen Armen entrissen und wie ein Stück Abfall weggeworfen – und nun ermordete der Staat sein zweites Kind. Und obwohl es nur ein Stockwerk über ihm passieren würde, keine zehn Meter entfernt, konnte er nichts dagegen tun … Dieses Gefühl der Machtlosigkeit war Bürgern der Volksrepublik bestens bekannt, denn in ihrem Land galten nur die Gesetze derer da oben, auch wenn sie, wie in diesem Fall, den fundamentalsten menschlichen Regungen widersprachen. Diese beiden Empfindungen stritten nun im Kopf des Fabrikarbeiters Yang Quon miteinander. Seine Hände zitterten, während er sich im Kopf mit diesem Dilemma herumschlug. Angespannt vor sich hinstarrend, sah er nichts als die kahle Wand des Raums, aber … etwas musste es doch geben … irgendetwas …
Da war ein Münztelefon und er
Weitere Kostenlose Bücher